Nach dem Anschlag auf ein Sikh-Gebetshaus in Essen sitzen zwei Verdächtige in U-Haft. Sie sind erst 16 Jahre alt. Den Pädagogen Nils Böckler überrascht die Jugend der mutmaßlichen Attentäter nicht. Junge Männer seien besonders empfänglich für Ideologien und würden schneller radikalisiert als früher, sagt er. Von einer neuen Terrorgeneration will Böckler aber nicht sprechen.
Nils Böckler ist Pädagoge und Psychologe. Er arbeitet am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und forscht zu Radikalisierungsprozessen terroristischer Einzeltäter. Wir haben ihn über den Terroranschlag in Essen und die mutmaßlichen Täter befragt.
Herr Böckler, zwei 16-Jährige sollen für den Anschlag in Essen verantwortlich sein. Sie haben wohl Verbindungen zur Salafistenszene, die Polizei geht von einem Terrorakt mit islamistischem Hintergrund aus. Die beiden Festgenommenen sollen teilweise gestanden haben. Wie kann es passieren, dass derart junge Männer zu Attentätern werden?
Nils Böckler: Das Alter ist eigentlich nicht überraschend. Junge Männer zwischen 14 und 35 Jahren sind besonders empfänglich für Ideologien. Jugendliche sind auf der Suche nach ihrer Identität, nach Mitteln sich auszudrücken, nach einem Lebenssinn.
Ideologien wie der Salafismus haben da oft vermeintliche Lösungen parat: Sie bieten Orientierung und Möglichkeiten, ein Persönlichkeitsprofil zu entwickeln. Dazu reduzieren sie die soziale Komplexität, präsentieren also ein klares Bild, wer Freund und wer Feind ist - was auch die Option eröffnet, eigene Probleme zu externalisieren. Also, jemand anderem die Schuld dafür zu geben.
Gibt es denn unter den jungen Leuten solche, die besonders anfällig sind?
Es gibt kein klares Persönlichkeits- oder Sozialprofil. Generell kann man aber sagen, dass insbesondere Menschen anfällig sind, die sich in einer Umbruchphase befinden. Etwa Jugendliche, die eine Krise zu bewältigen haben, bei denen gerade der Vater gestorben ist oder die mit der Schule fertig sind, aber keine Arbeit oder im Studium keine Erfüllung finden. Aber auch Migranten und Flüchtlinge, die von Salafisten oft schon bei ihrer Ankunft gezielt angesprochen werden. Menschen also, die gerade versuchen, eine schwierige Situation zu bewältigen.
Nun kann man einer solchen Gruppe angehören, ohne Gewalt auszuüben. Wie kommt es zur Radikalisierung?
Das hängt davon ab, mit welcher Intention jemand in die Gruppe eintritt. Es gibt Menschen, die dort Karriere machen wollen und soziale Bestätigung brauchen. Die sozialen Beziehungen spielen dann eine größere Rolle als die reine Ideologie. Sie versuchen, sich durch immer drastischere Worte und Taten innerhalb der Gruppe zu beweisen und hochzuarbeiten.
Dann gibt es Mitläufer, die Menschen brauchen, die ihnen - salopp gesagt - zeigen, wo es langgeht, ihnen aber auch eine starke Schulter bieten und signalisieren: Wir kümmern uns. Sie geraten in eine soziale Spirale. Sie werden quasi erpresst, indem ihnen gesagt wird, dass wenn sie weiter von der Gruppe profitieren möchten, sie vor Gewalt nicht zurückschrecken dürfen. Manche Mitläufer steigen an diesem Punkt aus.
Die dritte Gruppe sind diejenigen, die sich tatsächlich mit der Ideologie identifizieren und in ihr Lebenssinn erkennen. Sie verstehen eine Gewalttat als eine Art Initiationsritus, um voll in der Gruppe aufzugehen.
An welchem Punkt kann die Radikalisierung am besten verhindert werden?
Am besten so früh wie möglich. Denn je länger jemand in der Gruppe ist, desto abhängiger wird er von der positiven Rückkopplung, die er dort erfährt. Wichtig ist, dass alternative soziale Angebote gemacht werden. Der Typ "Karrierist" könnte wohl am ehesten zum Ausstieg bewegt werden, wenn er sieht, dass er woanders mehr Aufmerksamkeit bekommt und bessere Aufstiegschancen hat.
Manchmal spielt auch der Zufall eine Rolle, ob sich jemand radikalisiert - gerade bei jungen Leuten. Sie informieren sich oft als erstes über soziale Netzwerke. Bisweilen geraten sie dann, ohne es zu merken, vom politischen Salafismus zum Dschihadismus, in dem der sogenannte Ungläubige nicht missioniert, sondern bekämpft wird. Vor allem bei Facebook ist es schnell möglich, vom einen zum anderen zu kommen, zumal beide Gruppen die gleiche Sprache verwenden.
Sehen Sie denn die Gefahr, dass da eine neue Terrorgeneration heranwächst und Anschläge wie der in Essen häufiger werden?
Von einer neuen Terrorgeneration würde ich nicht sprechen. Das ist ein Begriff, der nur unnötig Panik und Stigmatisierung in der Gesellschaft fördert.
Was man aber sagen kann ist, dass ein Großteil derjenigen, die nach Syrien gegangen sind, um sich dem Dschihad des "Islamischen Staats" anzuschließen, junge Männer sind. Und dass die Radikalisierung schneller vonstattengeht als früher. Sie dauerte in vielen Fällen nur noch rund ein Jahr, wohingegen es zu Zeiten von Al Kaida oftmals mehrere Jahre dauerte, bis ein Kämpfer Anschläge auf andere Gesellschaften verübte. Ideologien sind heute leichter verfügbar.
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