Nach 2014 und 2016 ist Brüssel erneut vom Terror heimgesucht worden. Ein 45-jähriger Tunesier hatte am Montagabend zwei Schweden erschossen. Der IS reklamiert die Tat für sich. Warum trifft es Brüssel immer wieder? Politikwissenschaftler Siebo Janssen hat mehrere mögliche Erklärungen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die europäische Hauptstadt Brüssel ist von einem mutmaßlich islamistischen Terroranschlag erschüttert worden. Am Montagabend (16. Oktober) hatte ein Mann im Zentrum Brüssels auf Passanten geschossen und dabei zwei schwedische Fußballfans getötet und eine weitere Person verletzt.

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Brüssel rief die höchste Terrorwarnstufe aus, das Fußball-Länderspiel zwischen Schweden und Belgien wurde abgebrochen. Der IS beansprucht die Tat inzwischen für sich, eine entsprechende Meldung verbreitete die Terrormiliz über ihr Sprachrohr "Amak".

Polizei erschoss den Täter

Der Täter, der zunächst flüchtete und später von der Polizei erschossen wurde, war gegen 19.15 Uhr in der Nähe des Place Sainctelette im Stadtteil Sint-Jans-Molenbeek von einem Motorroller abgestiegen und hatte auf Menschen geschossen, die aus einem Taxi ausstiegen.

Bei dem erschossenen Täter soll es sich um einen 45-jährigen Mann aus Tunesien handeln. Laut Justizminister Vincent van Quickenborne soll er im November 2019 in Belgien Asyl beantragt haben. Ein knappes Jahr später wurde sein Antrag abgelehnt. Seitdem habe sich der Mann illegal in Belgien aufgehalten.

Terror bereits 2014 und 2016

Terror in Brüssel – diese Schlagzeile gibt es nicht zum ersten Mal. Bereits 2014 erschoss ein Franzose mit algerischen Wurzeln vier Menschen im Jüdischen Museum. Die Tat war damals der erste Anschlag in Europa mit einem Bezug zum IS.

2016 folgten dann die Terroranschläge am Flughafen Zaventem und in einer Metrostation in Brüssel. Über 30 Menschen starben, 340 wurden verletzt. Zu den Drahtziehern gehörte auch Salah Abdeslam, der in Frankreich bereits eine lebenslange Haftstrafe wegen der Anschläge in Paris 2015 verbüßt. Der jetzige Terroranschlag, der sich in die Vorfälle von 2014 und 2016 einreihen könnte, wirft die Frage auf: Warum immer wieder Brüssel?

Täter war polizeibekannt

Der jetzige Täter war bereits polizeibekannt, und zwar im Zusammenhang mit Menschenhandel, illegalem Aufenthalt und Gefährdung der Staatssicherheit. Als Gefährder soll der Tunesier bei den Behörden zwar nicht registriert gewesen sein, allerdings soll im Juli 2016 eine ausländische Polizeibehörde unbestätigte Informationen übermittelt haben, wonach der Mann ein islamistisches Profil habe und in ein Konfliktgebiet in den Dschihad ziehen wolle.

Laut Justizministerium wurden die Hinweise ohne Ergebnis überprüft. "Darüber hinaus gab es, soweit unseren Diensten bekannt, keine konkreten Hinweise auf eine Radikalisierung", hieß es von belgischen Behörden. Aus Sicht von Politikwissenschaftler, Historiker und Belgien-Experte Siebo Janssen gibt es mehrere Gründe, warum es Brüssel in der Vergangenheit immer wieder getroffen hat.

Komplizierte Staatsstruktur

Zum einen habe Belgien eine relativ komplizierte Staatsstruktur, die es Kriminellen erleichtere, den Fängen der Polizei zu entwischen. Janssen erläutert: "Belgien ist ein Föderalstaat mit mehreren Ebenen. In Brüssel sitzt die Zentralregierung, hinzukommen die drei Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel-Hauptstadt."

Außerdem gebe es eine niederländisch-sprachige, eine französisch-sprachige und eine deutsch-sprachige Gesellschaft. "Dann gibt es noch Provinzen und Kommunen. Alle diese unterschiedlichen administrativen Niveaus haben andere Kompetenzen", so der Experte.

Während die Gemeinschaften vor allem für Sprache, Kultur und Bildung zuständig seien, kümmerten die Regionen sich vorrangig um Wirtschaft und Handel und die Zentrale sei vor allem für Soziales, Außen- und Sicherheitspolitik verantwortlich.

Konkurrenz um Verantwortlichkeiten

"Durch diese komplizierte Struktur gibt es unterschiedliche Verantwortungsniveaus. Es gibt eine kommunale Polizei und eine gesamtstaatliche Polizei – aber keine regionale Polizei. Die Regionen und die Gemeinschaften haben keine Polizeieinheiten", erklärt Janssen.

Allein die Region Brüssel bestehe aus 19 eigenständigen Gemeinden. "Brüssel selbst ist nur eine dieser Gemeinden. Wenn man in die Region Brüssel-Hauptstadt fährt, durchquert man theoretisch 19 eigene Städte", sagt der Belgien-Kenner.

Die 19 Kommunen unterteilten sich in sechs Polizeizonen. "Das macht es kompliziert: Die Polizeien haben unterschiedliche Befugnisse und gucken teilweise sehr genau darauf, wer was macht", so Janssen. Die Zuständigkeiten seien zwar theoretisch administrativ geregelt, aber im Alltag gebe es immer wieder Widersprüchlichkeiten und Konkurrenzen. "Man kann von einer Polizeizone leicht in die andere wechseln, wenn man unerkannt bleiben möchte. Das ist eine Schwäche des Systems, die ausgenutzt werden kann", sagt Janssen.

Migrationsfrage lange nicht ernst genommen

Zum anderen habe Belgien die Migrationsfrage lange nicht wirklich ernst genommen. "Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man verstärkt Menschen aus Italien für den Wiederaufbau angeworben. Diese sind vor allem nach Lüttich, Charleroi und in die Industrieregion Borinage gekommen, während nach Brüssel vor allem Menschen aus Nordafrika wie zum Beispiel Tunesien und Marokko gekommen sind", beschreibt der Experte.

Die erste Generation sei noch relativ gut in den Arbeitsmarkt integriert gewesen. Dann seien aber im Laufe der Jahrzehnte viele Arbeitsplätze weggefallen. "Die nachfolgenden Generationen haben oft keine Perspektive mehr, das führt zu einem sozial-ökonomischen Sprengstoff", so Janssen.

Gespaltene Kommunen

Es gebe sehr arme Gebiete in den Kommunen. Janssen beschreibt: "In Schaarbeek findet man Prachtboulevards und zwei Straßen weiter ist man in einem Elendsviertel. Die sozial-ökonomischen Gegensätze sind in vielen Gemeinden stark." Kommunen wie Schaarbeek und Molenbeek seien dadurch auch intern sehr stark gespalten.

"Die Menschen haben eine gewissen Perspektivlosigkeit, sie leben neben der realen Gesellschaft her und es gibt radikale Prediger, die sie gezielt ansprechen", führt Janssen aus. Er erinnert an 2016: Die späteren Terroristen waren damals in einem Café von salafistischen Predigern angesprochen worden. "Sie wurden langsam herangeführt, man hat ihnen eine Perspektive gegeben und irgendwann sind sie in ein Gewaltszenario hineingesetzt worden", beschreibt Janssen.

Lasche Waffengesetze

Letztlich könnten aus Janssens Sicht auch die laschen Waffengesetze in Belgien eine Rolle spielen. "Sie sind zwar viel schärfer als in den USA, aber vergleichsweise locker", sagt Janssen. Der größte europäische Waffenproduzent sitze in Belgien und man komme relativ leicht an Leichtwaffen wie Pistolen und bestimmte Gewehre.

"Man braucht eine Meldebestätigung, einen Personalausweis und es gibt einen Background-Check. Wenn man aber bis dahin nicht aufgefallen ist mit Waffendelikte, kann man eine Waffe kaufen", sagt der Experte. Wenn man andere Delikte auf dem Kerbholz habe – beispielsweise etwas geklaut oder jemanden zusammengeschlagen habe, sei das nicht unbedingt ein Ausschlusskriterium.

Brüssel als Herz Europas

Ob die Symbolik von Brüssel als europäische Hauptstadt für die Terroristen auch eine Rolle spielt, kann Janssen nicht eindeutig beantworten. "Die Außenwahrnehmung ist jedenfalls: Das ist die Hauptstadt der Europäischen Union und der Nato und sie schafft es noch nicht einmal, Sicherheit zu garantieren."

Unklar sei aber, ob die Attentäter in ihrer Ideologie so tief gehen würden, Brüssel deshalb bewusst auszuwählen. "In Bekennerschreiben ging es jedenfalls bislang nicht darum, dass man ein Symbol in Bezug auf die EU oder die Nato setzen wollte", sagt Janssen.

Experte hat eine Warnung

Der Experte warnt allerdings vor einer allgemeinen und pauschalen Verurteilung von Brüssel. "In den Kommunen findet ein völlig normales Leben statt. Das sind nicht alles Fundamentalisten, die dort durch die Straße laufen", betont er.

Man müsse keine Angst haben, sich durch die Kommunen zu bewegen und könne dort ganz normal essen oder einkaufen gehen. "Ich warne davor zu sagen, es sind alles Gescheiterte, Terroristen oder Kriminelle", betont er. Schließlich sei, als der NSU-Skandal als Licht kam, auch nicht ganz Chemnitz verurteilt worden.

Zur Person:

  • Dr. Siebo Janssen ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er lehrt an verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen zu den Themen europäische Integration, Politische Ideengeschichte, Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik, Politische Systeme der Benelux-Staaten und der USA.
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