Tobias Lindner ist als Staatsminister im Auswärtigen Amt unter anderem für die Feministische Außenpolitik zuständig. Im Interview mit unserer Redaktion erklärt der Grünen-Politiker, warum er das Konzept für wichtig hält, spricht über Deutschlands Rolle in der Welt – und die Diplomatie im Krieg gegen die Ukraine.
Herr Lindner, es wird immer wieder kritisiert, die Bundesregierung setze beim russischen Krieg gegen die Ukraine zu viel auf militärische Mittel und zu wenig auf Diplomatie. Ist die deutsche Außenpolitik da gerade untätig?
Tobias Lindner: Das wäre ein sehr verkürzter Blick darauf, was Deutschland unternimmt. Wir unterstützen die Ukraine ja nicht nur militärisch. Deutschland ist beispielsweise der größte europäische Geber für humanitäre Hilfe und engagiert sich massiv beim Wiederaufbau.
Und die Diplomatie?
Diplomatie darf nicht bedeuten, einen Aggressor einfach gewähren zu lassen. Im eigenen Sicherheitsinteresse müssen wir darauf bestehen, dass im Europa des 21. Jahrhunderts keine Grenzen durch Gewalt verschoben werden. Darum unterstützen wir die Ukraine in ihrem Kampf gegen die russische Invasion.
Sie glauben also nicht, dass Russland Interesse an einer Lösung auf diplomatischem Weg hat?
Ich bin mir dessen sicher. Der Bundeskanzler und der französische Präsident Macron haben immer wieder mit
China hat Ende Februar eine Friedensinitiative vorgelegt. Was versprechen Sie sich davon?
Wir haben bereits einen Friedensplan vorliegen – und der heißt UN-Charta. Alle Staaten der Welt, auch Russland und China, haben ihn unterschrieben. Darin enthalten sind rechtlich bindende Grundsätze, die Frieden und Sicherheit in unserer Welt sicherstellen. Allen voran: Das Gewaltverbot und die territoriale Integrität von Staaten. Es braucht daher keine Neuerfindung des Rads durch China. Russland muss sich einfach an die Prinzipien halten, die es bereits gibt, und sich aus der Ukraine zurückziehen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn China sich für eine Beendigung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf dieser Basis einbringen würde. Warum etwa reist der chinesische Staatspräsident
Tobias Lindner über Feministische Außenpolitik: "Das ist kein Hexenwerk und keine Raketenwissenschaft"
Die Bundesregierung hat sich eine Feministische Außenpolitik auf die Fahnen geschrieben. Als einer von ihren Grundsteinen gilt der Internationale Frauenkongress 1915 in Den Haag. Da forderten die Frauen, dass Konflikte auf friedliche Weise gelöst werden – durch Abrüstung und Vermittlung. Das steht doch im Widerspruch zur Außenpolitik vieler europäischer Staaten seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine.
Das sehe ich nicht so. Natürlich verfolgt Feministische Außenpolitik das Ziel, bewaffnete Konflikte zu vermeiden. Sie ist aber nicht sprachlos, wenn ein bewaffneter Konflikt doch ausbricht. Ich wüsste nicht, wie man zum Beispiel mit Wladimir Putin Konfliktprävention betreiben könnte. Es wäre in der Tat keine Feministische Außenpolitik, nur Waffen an die Ukraine zu liefern.
Sondern?
Feministische Außenpolitik bedeutet, sich gleichzeitig um die Zivilbevölkerung, um Vertriebene und Binnenvertriebene zu kümmern, humanitäre Hilfe zu leisten und auch mit der Zivilgesellschaft im Kontakt zu sein in Bezug auf die Gestaltung der Zukunft der Ukraine, gerade auch mit Frauen und marginalisierten Gruppen. In dem Kontext ist es uns auch sehr wichtig, die Täter von Kriegsverbrechen wie sexualisierter Gewalt gegen Frauen zur Rechenschaft zu ziehen. Deswegen haben wir Personal in die Ukraine geschickt, um Beweise zu sichern und Zeuginnen und Zeugen zu vernehmen.
Der Begriff Feministische Außenpolitik polarisiert – dabei wissen viele Menschen gar nicht, was darunter zu verstehen ist. Wie erklären Sie den Begriff?
Feministische Außenpolitik betrachtet die Gesellschaft als Ganzes, sie nimmt alle Geschlechter und benachteiligte Gruppen in den Blick und setzt sich dafür ein, dass sie gleiche Rechte, Repräsentanz und Ressourcen genießen. Das ist kein Hexenwerk und keine Raketenwissenschaft. Das Konzept haben sich auch nicht die Grünen ausgedacht. Viele Länder praktizieren längst eine Feministische Außenpolitik – auch wenn sie manchmal anders genannt wird. Wir sind hier international eher Nachzügler.
Wozu brauchen wir sie?
Unser Grundgesetz besagt, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Diese Gleichberechtigung durchsetzen, ist ein Auftrag unserer Verfassung. Feministische Außenpolitik nützt aber auch unseren Interessen. Wir geben in diesem Jahr 3,3 Milliarden Euro für humanitäre Hilfe und die Stabilisierung von Krisenherden aus. Wenn wir dieses Geld bereitstellen, haben wir auch ein Interesse daran, dass diese Maßnahmen dauerhaft wirksam sind. Das heißt, dass wir vor Ort Frauen und marginalisierte Gruppen einbeziehen müssen. Denn es ist empirisch bewiesen, dass zum Beispiel Friedensabkommen länger halten, wenn die ganze Gesellschaft, also alle sozialen Gruppen und eben auch Frauen, diese mitgestalten.
Im Auswärtigen Amt sind Sie als Mann für die Feministische Außenpolitik zuständig. Ist das ein Widerspruch?
Manche schmunzeln darüber. Aber das war eine ganz bewusste Entscheidung. Feministische Außenpolitik ist keine Politik von Frauen für Frauen. Auch Männer profitieren von Feministischer Außenpolitik – zum Beispiel, wenn dauerhafte Friedensverträge für die ganze Gesellschaft ausgehandelt werden. Das gilt auch für die Innendimension von Feministischer Außenpolitik: Das Auswärtige Amt hat sich auch das Ziel gesetzt, die Vereinbarkeit von Familie und diplomatischem Dienst zu verbessern. Davon profitieren alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und natürlich können Männer nicht nur Profiteure der Feministischen Außenpolitik sein. Sie müssen sie auch mitgestalten und dazu leiste ich meinen Beitrag.
Menschenrechtlerinnen kritisieren: Das Auswärtige Amt schreibt sich die Feministische Außenpolitik auf die Fahnen – unternimmt aber zu wenig gegen die Regierung Irans, die Proteste für Frauenrechte seit Monaten niederschlagen lässt.
Diese Bundesregierung hat in Brüssel mehrere Sanktionspakete gegen die iranische Führung, Sicherheitskräfte und Sittenpolizei vorangetrieben, Plätze für besonders bedrohte Iraner und Iranerinnen in Schutzprogrammen zur Verfügung gestellt und humanitäre Visa vergeben. Auf unsere Initiative hat der UN-Menschenrechtsrat eine internationale Untersuchungskommission eingesetzt. Wir halten das Thema fortlaufend auf der Tagesordnung. In Deutschland heißt es häufig: Macht mehr Druck! Auf europäischer Ebene bekommen wir manchmal die Frage gestellt: Warum macht ihr da so viel Druck, warum ist euch das so wichtig? Deutschland ist bei diesem Thema ein Antreiber. Es gibt in vielen Ländern der Welt brutale Realitäten, die man nur schrittweise verändern kann. Feministische Außenpolitik ist kein Zauberstab, die das im Handumdrehen ändert. Aber sie bedeutet, dass die Situation der Menschen im Iran eine Priorität für uns ist, dass wir nicht lockerlassen und kein "business as usual" mit Iran machen.
"Wir sind keine größere Schweiz, die sich aus vielem heraushalten kann"
Deutschland hat sich auf der internationalen Bühne jahrzehntelang eher zurückgehalten – gerade militärisch und gerade aufgrund der eigenen Geschichte. Das hat sich inzwischen verändert. Muss Deutschland international eine selbstbewusstere Rolle spielen?
Wir sind die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, bevölkerungsmäßig das größte Land Europas. Das kommt mit einer gewissen Verantwortung. Wir sind eben keine größere Schweiz, die sich aus vielem heraushalten kann. Aber Engagement zu zeigen, bedeutet für mich nicht automatisch, dominant aufzutreten und anderen seine Meinung überzustülpen.
Ist die Bevölkerung aus Ihrer Sicht bereit, eine selbstbewusstere Rolle Deutschlands in der Welt mitzutragen?
Ich glaube, da hat sich die Stimmung deutlich gewandelt. Die deutsche Gesellschaft mag grundsätzlich keine Risiken. Man hält sich lieber raus, möchte sich nicht einmischen. Wir können uns aber nicht aus allen Krisen der Welt heraushalten. Ob das die Eurokrise war oder das Thema Flucht und Migration als Folge der Bürgerkriege und Konflikte in Syrien, Jemen oder Afghanistan: Das alles betrifft uns unmittelbar. Diese Länder sind nun mal nicht weit weg. Und auch die Zeit eines Direktflugs von Berlin nach Kiew ist nun mal kürzer als die von Berlin nach Palma de Mallorca. Ich denke, das ist vielen Menschen in unserem Land über die letzten Monate und Jahre bewusst geworden.
Die Ampel-Parteien haben in ihrem Koalitionsvertrag versprochen, eine Nationale Sicherheitsstrategie vorzulegen. Wozu braucht es so eine Strategie?
Wir wollen ein umfassendes Dokument vorlegen, um die Sicherheit Deutschlands von allen Seiten zu beleuchten: Wer ist dieses Deutschland des 21. Jahrhunderts? Wer sind unsere Freunde und Partner in der Welt? Wer sind unsere Rivalen und was unsere Herausforderungen? Wie erpressbar sind wir über Lieferketten oder Absatzmärkte? Wie beeinflusst die Klimakrise unsere Sicherheit? Vom Umfang her wird diese Strategie eher kein Buch, sondern eine Broschüre. Sie soll Herausforderungen, Ziele und Instrumente benennen – aber eine Strategie ist kein Maßnahmenpaket. Die Umsetzung der Maßnahmen, um die in der Strategie festgelegten Ziele zu erreichen, obliegt den jeweils betroffenen Ministerien. Das ist je nach Thema das Auswärtige Amt, das Wirtschaftsministerium, das Verteidigungsministerium et cetera.
Die Sicherheitsstrategie sollte eigentlich im ersten Jahr der Bundesregierung fertig sein. Bis jetzt liegt sie aber nicht vor.
Es gibt jetzt einen finalen Text, der im Moment in der sogenannten Ressortabstimmung zwischen den einzelnen Ministerien zirkuliert wird. Ich bin optimistisch. Das Thema wird bestimmt in den nächsten Wochen auf der Tagesordnung des Kabinetts zur Annahme stehen.
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