Mit dem Tod Alexej Nawalnys hat die Opposition in Russland ihre Galionsfigur verloren. Der Kreml mimt den Unschuldigen, doch für Beobachter ist das Signal eindeutig: Es geht um rote Linien, Risikobereitschaft und Abschreckung. Welche Folgen könnte Nawalnys Tod insbesondere im Hinblick auf die anstehenden Wahlen in Russland haben?
Putins vehementester innenpolitischer Kritiker, Alexej Nawalny, ist tot. Nach Angaben der russischen Gefängnisverwaltung soll sich der 47-Jährige am Freitag nach einem Spaziergang am Rand der Bewusstlosigkeit befunden haben und nach erfolglosen Wiederbelebungsversuchen gestorben sein.
Inzwischen wurde
Der Kremlkritiker, der unter anderem wegen Extremismus verurteilt worden war, musste eine jahrelange Haftstrafe in einer sibirischen Strafkolonie absitzen. Zwischenzeitlich war Nawalny nach einem Giftanschlag, für den er den Kreml verantwortlich machte, in Deutschland in Behandlung gewesen. Nach seiner Rückkehr im Januar 2021 wurde er umgehend verhaftet.
Todesursache laut Kreml unbekannt
Die Todesursache von Nawalny ist laut Kreml noch unbekannt, sie werde untersucht. In den russischen Medien verbreitete sich derweil das Gerücht, ein Blutgerinnsel sei die Todesursache. Der Tod des Oppositionellen ereignet sich rund einen Monat vor den Wahlen in Russland. Nawalnys politische Bewegung war verboten worden, Vertraute wurden verhaftet oder sind ins Ausland geflohen.
Experte sieht "keine unmittelbare Gefahr für den Kreml"
"Der Tod Nawalnys ist ein Schock für alle, die in Russland den Krieg oder Putin kritisch sehen", ist sich Politikwissenschaftler Janis Kluge im Gespräch mit unserer Redaktion sicher. Er solle die Gegner Putins weiter einschüchtern und demoralisieren. "Auch für die Eliten in Russland ist es noch einmal eine Erinnerung daran, was mit denen geschieht, die Putin herausfordern", meint er. Es sei zu befürchten, dass die vom Kreml intendierte Wirkung eintreten werde. "Und damit keine unmittelbare Gefahr für den Kreml entsteht", kommentiert Kluge.
So sieht es auch Russland-Experte Johannes Varwick: "Der Tod des politischen Gefangenen Nawalnys ist ein schweres Verbrechen des russischen Staates. Es ist zugleich Symbol für die Brutalität des Regimes nach Innen und Außen", sagt er unserer Redaktion. Die verbliebene Opposition in Russland werde vermutlich weder gestärkt noch geschwächt.
"Die Meinungsfreiheit ist in Russland ohnehin abgeschafft. Die russische Propagandamaschinerie wird sicher eine Kommunikationsstrategie dazu haben", so Varwick. Es werde vermutlich trotzdem vereinzelte Proteste geben, die aber das Regime zu unterdrücken wissen werde.
Kein "gelegener" Todeszeitpunkt für russisches Regime
Nawalny werde langfristig als Symbol für ein besseres Russland stehen – "wohl aber einstweilen hauptsächlich außerhalb Russlands", so der Experte. Den Zeitpunkt des Todes hält der Politikwissenschaftler für das Regime allerdings nicht für besonders gelegen. "Es verdeutlicht, dass die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen weder frei noch fair sind", erinnert er.
Politikwissenschaftler Tobias Fella zeichnet im Gespräch mit unserer Redaktion ein größeres Bild: "Die zumindest Hinnahme des Todes vor den Wahlen kann auch als Botschaft verstanden oder genutzt werden", sagt er. Der Kreml signalisiere eine Toleranz für Risiken – sowohl in Richtung Westen als auch an die Opposition. "Wer Moskau infragestellt, der gerät in Gefahr und wir sind hier auch bereit, Ausgänge zu riskieren, die wir nicht ganz kontrollieren können", so Fella.
Blick in russische Logik: "Abgrenzung und Abschreckung"
Insofern liefere der Tod Nawalnys, sofern der Kreml dafür verantwortlich ist, für den Experten einen Blick ins russische Regierungssystem. "Der Kreml hält sich für so stabil, dass er das absorbieren kann", sagt Fella. Es lasse sich aber auch herauslesen, dass Moskau sich auf einen längerfristigen Konflikt mit dem Westen eingerichtet hat. Der Tod zeige: "Der Kreml und der Westen sind in unterschiedlichen Orbits, Wahrheiten und Logiken unterwegs. Und hier geht um Abgrenzung und Abschreckung", so Fella.
Das bedeute, dass auf absehbare Zeit darum gehen werde, den Konflikt mit Russland zu managen, anstatt ihn zu lösen. "Dabei geht es darum, eine militärische Eskalation zwischen Russland und der Nato zu vermeiden und Risiken zu minimieren", meint er.
Herber Schlag für Opposition
Für die liberale Opposition ist der Tod Nawalnys ein herber Schlag. "Viele Oppositionelle sind bereits im Gefängnis oder haben das Land verlassen. Es ist die Frage, wer in Russland jetzt noch die Oppositionsfigur sein könnte, an der sich die liberalen Kräfte aufrichten können", sagt Fella. Zwar könne es in Reaktion auf den Tod des Kremlkritikers zu Protesten kommen, doch auch Fella meint, dass der Kreml darauf vorbereitet wäre. Es sei auch abzuwarten, wie bzw. bis zu welchem Grad die russischen Medien den Tod Nawalnys zum Thema machen werden.
Man dürfe auch nicht vergessen, dass Nawalny innerhalb der russischen Gesellschaft nicht unumstritten gewesen sei und viele Familien derzeit eher mit den Soldaten an der Front befasst seien. "Nawalny hatte aber in jedem Fall eine Bedeutung für bestimmte Segmente der russischen Gesellschaft, insbesondere für liberalere Teile. An sie geht nun das Signal, was passieren kann", so der Experte.
Sie sollten nach dem Willen der Machthaber die Füße stillhalten. "Man will die russische Opposition einhegen und rote Linien ziehen", vermutet Fella. Nawalny habe die Hoffnung auf eine andere Zukunft symbolisiert – und die sei nun um ein weiteres Stück geschrumpft. "Es wird sehr lange dauern, bis sich die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland normalisieren werden", fürchtet Fella.
Über die Gesprächspartner:
- Dr. Janis Kluge ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe "Osteuropa und Eurasien" bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zu den Arbeitsschwerpunkten des Wirtschaftswissenschaftlers zählen russische Innenpolitik, Russland und China, die wirtschaftliche Entwicklung Russlands sowie Sanktionen und ihre Wirkung.
- Prof. Dr. Johannes Varwick ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle-Wittenberg.
- Dr. Tobias Fella ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedens- und Sicherheitsforschung an der Universität Hamburg (IFSH). Er forscht zu den Beziehungen zwischen den USA, Russland und China.
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