Das Dritte Reich ist bis ins letzte Detail analysiert, doch das Thema Drogen wurde weitestgehend übersehen. "Das ist ein Versäumnis", sagt Norman Ohler, der Autor des Buches "Der totale Rausch: Drogen im Dritten Reich" - und spricht im Interview über eine Gesellschaft im Vollrausch, Massenmörder auf Metamphetamin und die Folgen der schweren Drogensucht Adolf Hitlers.
Die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten ist Bestandteil unzähliger Bücher, Analysen, Studiengängen und Forschungsprojekten. Und doch wurde dem Aspekt Drogenkonsum im Dritten Reich kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist erstaunlich - denn obwohl die der Staat Rauschmittel tabuisierte, war ihr Konsum bereits in den 30er Jahren alltäglich. Inwiefern kann der Drogenmissbrauch mit den Entwicklungen im Dritten Reich in Verbindung gebracht werden? Das Buch "Der totale Rausch: Drogen im Dritten Reich" nähert sich diesem Thema - und erweitert den Blick auf die Vorkommnisse in Nazi-Deutschland.
Eine Gesellschaft im Vollrausch
In den 30er-Jahren war in Deutschland ein frei verkäufliches Mittel sehr beliebt - "Pervitin", das Metamphetamin enthält. Norman Ohler erklärt, es sei anfangs nicht klar gewesen, dass es sich dabei um eine Droge handelte - heute würde man bei Pervitin von "Crystal Meth" sprechen.
"Pervitin wurde zur Volksdroge", erklärt Ohler im Interview. Einfach und preisgünstig zu erhalten in der Apotheke, habe man sich mithilfe der Droge "äußerst wach, redselig und in der Gesellschaft beliebt" gefühlt. In gewisser Weise befand sich die Gesellschaft vor dem Kriegsausbruch 1939 in einem dauerhaft anhaltenden Vollrausch.
"Bevor der Krieg losging, spielte Pervitin schon eine gewisse Rolle: Man hatte das Gefühl, dass alles in Ordnung ist und es einem gut geht", erklärt der Autor. So "Heinz-Rühmann-mäßig", beschreibt es Ohler. Dass nicht alles in Ordnung war, wussten allerdings alle spätestens seit der Reichskristallnacht 1938. "Ohne Pervitin wäre die Stimmung bestimmt auch so gewesen, aber die Droge passte sehr gut zu dieser 'Party', die NS-Deutschland vor dem Krieg angeblich war", sagt Ohler.
Drogen für die Wehrmacht - "Blitzkrieg ist Metamphetaminkrieg"
Die deutsche Wehrmacht ist die am besten untersuchte Armee aller Zeiten. Berichte bestätigen laut Ohler den Einsatz von Drogen vor allem vor dem Angriff auf Frankreich 1940. "Pervitin erzeugte im Körper eine künstliche Ausnahmesituation" so der Autor. Man sei sofort absolut wach, alle Energien würden unmittelbar mobilisiert. Ohlers Recherchen zufolge wurden 35 Millionen Tabletten für diesen Feldzug bestellt. "Am Angriffsmorgen war die Stimmung noch ziemlich niedergedrückt", erklärt Ohler. Die Euphorie in der Truppe sei erst mithilfe des Metamphetamins stark angestiegen: "Die Drogen haben geholfen, ein Gefühl der Unbesiegbarkeit zu erzeugen."
Die Wirkung von Pervitin sei vorab in Experimenten von Universitäten getestet worden. Das Ergebnis: Angst und Hemmungen wurden reduziert, „Das heißt, man kämpfte furchtloser. Für Soldaten ist dieser Stoff ideal! Zumindest am Anfang", sagt Ohler. Langfristig kämen die Nebenwirkungen: Ein mittlerweile 94-jähriger Sanitätsoffizier bestätigte Ohler im Gespräch für dessen Buch, dass Pervitin Herzprobleme, Psychosen, überreizte Nerven und Kräfteverfall erzeugt habe. Der massive Einsatz der Pillen wurde aber trotzdem unkritisch gesehen - Ohler schreibt in seinem Buch, dass "die Wirkung geläufig war - nicht aber die Gefahren".
Adolf Hitler und seine Sucht
Der gesundheitliche Zustand und die Drogensucht Hitlers ist durch seinen Leibarzt Theodor Morell sehr gut dokumentiert. "Morell hat mehr Zeit mit Hitler verbracht als jeder andere Mensch", sagt Ohler.
Die Spritzen-Sucht begann 1936: "Hitler wollte von Morell morgens anstatt des Frühstücks Vitamin- und Traubenzuckerspritzen." Ab dem Russland-Feldzug 1941 seien die Vitamine allerdings nicht mehr genug gewesen. "Als der Führer krank wurde und nicht an der Lagebesprechung teilnehmen konnte, spritzte Morell ihm zum ersten Mal Glyconorm, ein selbstgemischtes Hormon - ein klassisches Dopingmittel", erklärt Ohler. Für die Lagebesprechung am nächsten Tag sei Hitler wieder völlig fit gewesen, was dazu geführt habe, dass er Glyconorm-Spritzen immer häufiger verlangt habe. Und Morell stellte das dubiose Gemisch für den Führer her - einmal beispielsweise als ein Leberpräparat aus Tausenden von Schweinelebern. "Hitler wollte immer topfit sein und sich keine Ausfälle erlauben."
"High Hitler": die Droge Eukodal
Doch schon bald hätten die Hormoninjektionen nicht mehr ausgereicht. "Hitler verlangte nach etwas Stärkerem", sagt Ohler. Morell griff zu Eukodal, einem Cousin des Heroins: "Beinahe doppelt so schmerzstillend wie Morphin, besticht dieser Urtypus von Designerdroge durch ein äußerst rasch einsetzendes, signifikantes Euphorisierungspotenzial, das deutlich höher liegt als das von Heroin", beschreibt Ohler die Wirkungsweise von Eukodal in seinem Buch. "Nach dem Attentat durch Stauffenberg im Herbst 1944 wurde es häufiger eingesetzt – auch in hohen Dosierungen, die ein sehr, sehr starkes 'High' erzeugten", erklärt Ohler im Interview. Hitler habe das offenbar gerade wegen der katastrophalen militärischen Situation gebraucht.
Die Sucht nach Eukodal hatte massive Auswirkungen auf Hitlers Stimmung. Im Interview beschreibt Ohler: "Hitler fühlte sich damit großartig! Er fühlte sich wie der 'Führer'. Wenn man diese Mengen Eukodal in die Vene injiziert bekommt, fühlt man sich wie Leonardo DiCaprio auf dem Bug der 'Titanic'. Und wenn dann die Generäle sagten: 'Entschuldigung, aber die Russen stehen 50 Kilometer vor der deutschen Reichsgrenze', dann war Hitler trotzdem 'on top of the world'."
Theodor Morell – ein selbstsüchtiger Opportunist
Morell habe währenddessen gewusst, dass sich seine Position festigt, wenn er den Führer mit einem Opiat an sich fesselt. "In der Führer-Clique gab es großes Misstrauen gegen Morell", sagt Ohler. Deswegen hätte er ihm wahrscheinlich alles gegeben – was ein seriöser Arzt nie getan hätte. Aber Morell sei einfach froh gewesen, wenn es seinem Führer gut ging. "Dafür bestätigte Hitler ihm, dass der Erfolg des Tages wieder ihm zu danken sei. Morell war ein selbstsüchtiger Opportunist - nicht gerade ein Mann mit Rückgrat", erklärt Ohler im Interview.
Adolf Hitler wird zum "Untergangs-Wrack"
"Hitler hat sehr viele Entscheidungen auf Drogen getroffen", sagt der Autor. Ob die Drogen jedoch an den Entscheidungen schuld gewesen seien, sei reine Spekulation. Ohler schreibt in seinem Buch, dass Hitler ab einem bestimmten Zeitpunkt keinen nüchternen Tag mehr erlebte. "Das kann man einfach feststellen, indem man sich die Aufzeichnungen von Morell anschaut", so Ohler.
Andererseits sei man "auf Droge" nicht unbedingt "wirr". Hitler habe die Drogen auf jeden Fall gebraucht – und brach komplett zusammen, als es keine mehr gab. Das sei in den letzten Wochen im Führerbunker der Fall gewesen: "Hitler wurde zu diesem 'Untergangs-Wrack': Er sabberte nur noch und kriegte gar nichts mehr auf die Reihe. Das waren klare Entzugserscheinungen", schließt Ohler – und möchte im Interview noch einmal deutlich betonen, dass die Drogen Hitlers Schuldfähigkeit jedoch in keiner Weise minderten: "Die Verbrechen im Nationalsozialismus wurden alle schon geplant, als Hitler noch nicht auf Drogen war."
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