In der Türkei ist der Oppositionspolitiker Ekrem Imamoglu verhaftet worden. Lässt Präsident Erdogan einen Konkurrenten aus dem Weg räumen? Der Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe des Bundestags, Max Lucks, fordert eine entschiedene Reaktion.
Er galt als wichtigster Rivale des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Doch nun wurde Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu festgenommen – kurz bevor ihn seine sozialdemokratische Partei CHP als Kandidaten für die nächste Präsidentschaftswahl aufstellen wollte. In der Türkei ist die Stimmung aufgeheizt und angespannt: Viele Tausende Menschen demonstrieren gegen den Schritt.
Wie müssen Deutschland und die Europäische Union reagieren? Fragen an den Grünen-Abgeordneten Max Lucks, den Vorsitzenden der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe des Bundestags.
Herr Lucks, geht die türkische Regierung jetzt den letzten Schritt in Richtung Autokratie?
Max Lucks: Es ist zumindest der Versuch. Die Regierung versucht, den aussichtsreichsten Konkurrenten von Herrn Erdogan bei der nächsten Präsidentschaftswahl aus dem Weg zu räumen. Der türkische Staatspräsident hat offenbar kein Interesse mehr daran, überhaupt noch den Anschein einer Demokratie aufrechtzuerhalten. Er versucht, die Justiz zu instrumentalisieren, um freie Wahlen zu verhindern. Ob das gelingt, wird aber an anderen Stellen entschieden.
Wo?
Entscheidend ist, wie sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die türkische Gesellschaft darauf reagieren. Trotz Verboten sind in Istanbul sehr viele Menschen auf die Straßen gegangen, um zu demonstrieren. Vielleicht hat Herr Erdogan seine Rechnung nicht ganz zu Ende gedacht.
"Wir brauchen jetzt eine europäische Reaktion, die zeigt: Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der Türkei sind für uns kein Nebenschauplatz."
Birgt es nicht eine große Gefahr, wenn sich aufgebrachte Demonstranten und der Staatsapparat gegenüberstehen?
Natürlich kann das gefährlich werden. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass Erdogan und seine Regierung bereit sind, die Polizei gewaltsam gegen demokratische Proteste einzusetzen. Der Widerstand aus der Gesellschaft heraus ist aber groß und präsent. In den meisten Großstädten hatte Erdogan bei der letzten Präsidentschaftswahl keine Mehrheit mehr. Beachtliche Teile der Gesellschaft stehen nicht hinter seinem Kurs. Die demokratischen Kräfte brauchen jetzt unsere volle Solidarität und Unterstützung.
Und wie? Bis jetzt gab es vor allem kritische Wortäußerungen.
Es reicht nicht, betroffen zu sein. Aus meiner Sicht hätten die EU-Staats- und Regierungschef beim heutigen Gipfel in Brüssel ein klares Zeichen setzen müssen. Es ist gut, dass Bundeskanzler Olaf Scholz am Rande ein paar Worte dazu gefunden hat. Aber angesichts der Lage reicht das nicht. Wir brauchen jetzt eine europäische Reaktion, die zeigt: Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der Türkei sind für uns kein Nebenschauplatz.
Wie kann diese Reaktion aussehen?
Gegen die Türkei läuft ein Vertragsverletzungsverfahren beim Europarat, weil die türkische Regierung einige Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht umgesetzt hat – zum Beispiel im Fall des Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala, der zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Dieses Verfahren ruht derzeit mehr oder weniger. Man hatte nach meiner Vermutung die Hoffnung, dass wieder Bewegung in den Fall kommt. Diese Hoffnung wurde aber enttäuscht. Das Vertragsverletzungsverfahren muss wieder vorangetrieben werden. Wenn Herr Imamoglu nicht schnellstmöglich freigelassen wird, muss der Europarat auch einen Ausschluss der Türkei erwägen. Erdogan muss sehen: Europa nimmt Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei sehr ernst.
Was ist der Europarat?
- Der Europarat ist nicht mit der Europäischen Union zu verwechseln. Es handelt sich um eine eigene internationale Organisation, die bereits 1949 gegründet wurde und heute 46 Mitgliedstaaten umfasst. Zu seinen Zielen gehören die Wahrung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten in Europa. Russland ist nicht mehr Mitglied des Europarats, die Türkei dagegen schon.
Ein Ausschluss aus dem Europarat klingt wie die maximale Konfrontation.
Natürlich ist der Europarat auch ein Instrument, um die demokratischen Kräfte in der Türkei zu unterstützen. Aber wenn die Türkei die Werte des Europarates so untergräbt wie jetzt, beschädigt sie die Organisation insgesamt. Auch die Staats- und Regierungschefs der EU müssten sich zu 100 Prozent hinter diese Werte stellen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen tut so, als habe sie mit dem Europarat nichts zu tun. Aber im wichtigsten Nachbarland der EU im Südosten steht gerade die Demokratie auf dem Spiel. Die EU sollte als Reaktion auf die Festnahme Imamoglus alle Rüstungslieferungen an die Türkei sofort einstellen.
Möglicherweise sind wir einfach weiterhin auf gute Beziehungen zur Türkei angewiesen. Das Land ist eine Brücke zur islamischen Welt.
Die Türkei hat auch ein Interesse, ihre Beziehungen zu uns aufrechtzuerhalten. Herr Erdogan hat sein Land in eine fast schon desolate wirtschaftliche Situation geführt und ist angewiesen auf die Kooperation mit Europa. Ich persönlich bin auch ein großer Freund der Zusammenarbeit mit der Türkei. Auf die Menschenrechte zu pochen, bedeutet ja nicht, sofort jegliche Gesprächskanäle zu schließen.
Erdogan hat auch in Deutschland viele Anhänger. Wäre es nicht eine Belastung für die Beziehungen zu der türkischen Community, wenn man so hart gegen ihn vorgeht?
Wenn Menschen in unserem Land eine Autokratie mehr oder weniger offen unterstützen, müssen wir uns selbstkritisch fragen, welche Ursachen das hat. Aus meiner Sicht müssen wir bei diesem Thema trotzdem deutlich für unsere Werte eintreten. Gegenüber einer Autokratie schwächer aufzutreten, weil einige Menschen hierzulande diese Autokratie gut finden – das würde die Logik der Demokratie ad absurdum führen.
Über den Gesprächspartner
- Max Lucks ist in Gelsenkirchen geboren und in Wattenscheid aufgewachsen. 2017 bis 2019 war er Bundessprecher der Grünen Jugend. Er studierte Sozialwissenschaften und arbeitete als Referent der Grünen-Fraktion im Ruhrparlament. Seit 2021 ist er Mitglied des Deutschen Bundestags. In der vergangenen Wahlperiode war er Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und im Ausschuss für Menschenrechte sowie Vorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe.