Seit dem Aufstieg der AKP ist die Spaltung der türkischen Bevölkerung in Gegner und Anhänger der Regierung immer deutlicher zu spüren. Nicht nur die Polarisierung innerhalb der Mehrheitsgesellschaft nimmt zu, sondern auch die Abgrenzung nach außen und gegen Minderheiten im Land. Hat die Rhetorik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan einen Anteil an dieser Entwicklung? Wir haben den Türkei-Experten Kristian Brakel dazu befragt.

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Herr Brakel, es heißt, Erdogans Sprachstil sei teilweise einfach bis rüpelhaft. Können Sie das bestätigen?

Kristian Brakel: Er hat einen Sprachstil, der ein wenig dem entspricht, was auf der Straße gesprochen wird. Damit will er natürlich volksnah wirken, was zum Teil sogar von anderen Politikern kopiert wird. Dabei gibt es schon auch rüpelhaft wirkende Anwürfe, wie zum Beispiel das "Ey ..." - wenn er etwa Deutschland mit "Ey Almanya" anspricht.

Außerdem kommen bestimmte Phrasen immer wieder vor, die ich zwar nicht unbedingt als rüpelhaft bezeichnen würde, aber er hat damit einen eigenen Duktus geprägt, der das, worüber in der öffentlichen Diskussion in der Türkei gesprochen werden darf, stark einengt.

Wie macht er das?

Der türkische Sprachwissenschaftler Tanil Bora hat dazu ein Buch geschrieben. Er sagt, Erdogan erreicht das, indem er bestimmte politische Ansichten automatisch kriminalisiert oder zumindest eröffnet, dass es einen legitimen Diskurs gibt und einen illegitimen Diskurs. Und das, was illegitim ist, ist sehr weit gefasst.

Bei Pressekonferenzen kommt es vor, dass Erdogan Journalisten, die unbequeme Fragen stellen, duzt oder auf Fragen nicht inhaltlich eingeht, sondern dem Fragesteller eine Nähe zu seinen Gegnern unterstellt.

Ja, das kommt häufig vor. Ganz bekannt ist auch sein "Sen kimsin, ya?", also "Wer bist du denn?" Das bedeutet, es gibt Leute, die über bestimmte Themen sprechen dürfen. Und es gibt andere, die dürfen nicht über diese Themen sprechen. Das richtet sich durchaus auch immer wieder an internationale Politiker, also "Wer bist du, dass du der Türkei etwas vorschreiben willst?"

Die unterstellte Nähe zu bestimmten Gruppen dient dem gleichen Ziel. Also wer X oder Y sagt, der bedient einen Narrativ der Gülenisten oder der PKK oder anderer Gruppen. Das findet sich auch im häufig verwendeten "Hiç farkı yoktur", also "Das was du sagst, unterscheidet sich nicht von der PKK, den Gülenisten". Damit wird verengt, was sagbar ist, weil man sich mit bestimmten Aussagen verdächtig macht, irgendein anderes verborgenes Ziel zu befördern.

Fördert er damit bewusst ein Verschwörungsdenken?

Es ist ganz typisch für Erdogans Rhetorik, dass er zum Beispiel nicht sagt, der politische Gegner hat etwas gemacht, weil er das einfach selbst für richtig hält, sondern er sagt, die Amerikaner haben eine Operation gegen uns gestartet und der politische Gegner spielt da mit. Es wird also nicht auf die innenpolitische Fragestellung eingegangen, sondern ein Sicherheitsdiskurs eröffnet.

Das trifft auch auf die internationale Politik zu. Es kann nach dieser Logik nicht sein, dass Angela Merkel etwas sagt, einfach weil sie der Auffassung ist, dass es eine wichtige Sache ist, sondern es muss immer noch etwas anderes dahinterstehen.

Also ja, ein Verschwörungsdenken, das schon tief verankert ist, wird dadurch bedient. Eine abweichende Meinung ist nicht einfach nur eine abweichende Meinung. Erdogan spielt oft auf einen "üst akıl", also einen Strippenzieher an, der hinter allem stehe. Ganz häufig spricht er vom "büyük resim", also dem "größeren Bild", das man anerkennen müsse. Wer das nicht tut und sich nur das reine Wort ansieht, ist demnach naiv.

Es wird ganz klar mit Klischees gespielt, wie dass die Juden überall ihre Finger drin hätten und hinter allem stünden. Oft drückt sich Erdogan nicht eindeutig aus und sagt, "Ich werde den Namen jetzt nicht nennen, aber wir wissen alle, wer hinter dieser Sache steht." Dann sind wahlweise Amerikaner oder Juden gemeint oder jüdische Amerikaner. Das ist ein klassisch islamistisches Motiv und ich glaube, es entspricht auch seinem Weltbild.

Sie meinen, dass er tatsächlich selbst glaubt, was er erzählt?

Ja, zum Beispiel dass die Gezi-Proteste vom Ausland finanziert wurden und der Versuch waren, ihn zu stürzen. Das haben mehrere Leute aus der AKP bestätigt, die damals dabei waren und versucht haben, ihm zu erklären, dass man eher beruhigend auf diese ganzen Ereignisse reagieren sollte, statt mit Polizeigewalt reinzugehen. Er hat das abgelehnt, weil er eben der Ansicht war, es richtet sich gegen ihn und ist von außen inszeniert.

Das ist auch nicht ungewöhnlich. Wenn man sich autoritäre Herrscher ansieht, gerade im Nahen Osten aber auch weltweit, wird deutlich, dass sich leicht Paranoia einstellt. Gerade wenn man so wie Erdogan 2016 dann wirklich diesen Putsch gehabt hat. Ich glaube, dann neigt man auch eher zu Verschwörungsdenken.

Denken Sie, dass Erdogan die türkische Gesellschaft durch seine Rhetorik bewusst spaltet, indem er betont, dass es diejenigen gibt, die zu "uns" gehören - also die Ansichten der AKP teilen - und alle Andersdenkenen als Gegner darstellt?

Auf jeden Fall, das macht er auf verschiedene Weise. Einmal innerhalb des Landes. Da spielt das hinein, dass er seinen Gegnern das Recht abspricht, zu bestimmten Themen zu sprechen, sie in die Nähe des Terrors rückt oder ihnen unterstellt, dass sie Diener anderer Herren seien. Die vermeintlichen Strippenzieher werden oft nicht genau bezeichnet, aber es schwingen oft antisemitische Motive mit.

Außerdem gibt es eine Abgrenzung nach außen: Alles, was einheimisch und national ist, ist super und das, was von außen kommt, ist automatisch verdächtig. Das geht über eine Bevorzugung von "Made in Turkey" hinaus, sondern ist gleichzeitig eine Festschreibung davon, was richtiges Türkentum ist.

Bei dem Bundestagsbeschluss zum Armenier-Genozid gab es das ja auch: die Anfeindung gegen Cem Özdemir ging mit dem Vorwurf einher, er sei kein richtiger Türke, er habe kein türkisches Blut. Es gibt viele Motive, bei denen es darum geht, eine In- und eine Out-Group zu erzeugen.

Sind Auswirkungen davon in der allgemeinen Gesellschaft tatsächlich spürbar?

Es gibt eine regelmäßige Erhebung von der Bilgi-Universität zur politischen Polarisierung in der Gesellschaft. Darin lässt sich klar ablesen, wie die Polarisierung in den letzten Jahren gestiegen ist. Das geht so weit, dass beispielsweise Eltern befragt werden, wie sie es finden würden, wenn ihre Kinder mit Kindern aus der Familie eines politisch Andersdenkenden spielen würden. 68 Prozent sagen, dass sie das ablehnen. Und fast 80 Prozent sagen, sie würden es auf jeden Fall ablehnen, wenn ihre Tochter jemanden aus einer solchen Familie heiraten würden.

Das führt dazu, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet, bzw. nur mit ganz wenigen einigenden Narrativen zusammengehalten werden kann: In der Türkei ist das der absolute Nationalismus der bis auf die Minderheiten zumindest den Gros der Bevölkerung irgendwie abholt.

Minderheiten hatten es in der Türkei ja auch vorher schon nicht einfach. Hat sich ihre Lage in der aktuellen politischen Atmosphäre noch verschlechtert?

Es ist ja immer so und nicht nur in der Türkei: Wenn die herrschende Politik durch ihre Rhetorik ein Klima bereitet, in dem es zwar eigentlich gesetzlich verboten ist, Minderheiten zu verfolgen, aber die Leute tatsächlich keine Konsequenzen befürchten müssen, wird es schwierig. Man muss in der Türkei schon eine Weile suchen, bis man wirklich Prozesse findet, wo Leute, die auf Regierungsseite stehen und zu politisch motivierter Gewalt gegriffen haben, mit harten Konsequenzen rechnen mussten.

Und es befördert es natürlich auch ganz klar, wenn der Präsident sich hinstellt und in einer polarisierenden Rhetorik bestimmte Sachen sagt. Politisch Verirrte denken dann leichter, "Wenn er das sagt, was ich mir schon immer gedacht habe, dann wird es auch richtig sein, dass ich vielleicht einen Schritt weitergehe" - das sehen wir ja jetzt auch bei Trump, das ist in der Türkei nicht anders.

Unterm Strich geht es darum, inwieweit auch Gewalt gegen Andersdenkende toleriert wird. Und das geht schon weit. Es gibt ja immer wieder Vorfälle, die das zeigen - wie zum Beispiel die jährliche Pride Parade, wo immer wieder Islamisten und Nationalisten auftauchen und mit Holzlatten oder Messern bewaffnet Leute angreifen, weil sie finden, dass Schwule und Lesben kein Recht dazu haben, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Was die Kurden angeht, betont die Regierung ja immer, dass sich das Ganze nicht gegen die kurdischen Bürgerinnen und Bürger an sich richtet, sondern gegen die PKK. Auch wenn es nicht auf der Ebene von Gesetzen erfolgt, wird beispielsweise die Verwendung des Kurdischen in der Praxis dennoch eingeschränkt, wenn in kurdischen Gemeinden kurdische Schriftzeichen von Gebäuden abmontiert werden oder die Gendarmerie in Diyarbakır vorbeikommt und dem Café-Besitzer sagt, hier sollten aber keine kurdischsprachigen Zeitungen auf den Tischen liegen. Das ist nicht die offizielle Politik, aber es passiert trotzdem und das befördert natürlich so einen Diskurs.

Kristian Brakel ist Leiter des Istanbul-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung und Nahost-Analyst der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Er war in der Vergangenheit als Analyst für die UN, die EU und Nichtregierungsorganisationen tätig.
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