Schätzungsweise 450 000 Menschen leben in Syrien nahe der türkischen Grenze. Viele von ihnen ergreifen im Zuge der türkischen Offensive die Flucht. Mit den Angriffen am Boden und aus der Luft verschärft sich eine der schlimmsten Krisen vertriebener Menschen nun erneut.
Als Folge der jüngsten Eskalation im Syrienkonflikt sind den Vereinten Nationen und Aktivisten zufolge Zehntausende Menschen auf der Flucht. In den ersten 36 Stunden seit Beginn einer türkischen Offensive gegen Kurdenmilizen in Nordsyrien seien mindestens 60 000 Menschen vertrieben worden, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Donnerstag. Deren Angaben zu Flüchtlingen beruhen auf Schätzungen, eine unabhängige Bestätigung gab es für diese Zahl nicht.
Das türkische Militär setzte seine Offensive am Donnerstag fort und nahm dabei mehrere Grenzorte unter Beschuss. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verwahrte sich gegen Kritik an dem Militäreinsatz - vor allem aus der EU. "Hey, Europäische Union. Reißt Euch zusammen. Seht, ich sage es noch einmal: Wenn ihr versucht, unsere aktuelle Operation als Besatzung zu bezeichnen, dann haben wir leichtes Spiel. Dann öffnen wir die Türen und schicken euch (die) 3,6 Millionen Flüchtlinge", sagte Erdogan in einer Rede vor Angehörigen seiner Regierungspartei AKP.
Grenzstädte sind fast komplett verlassen
Die Syrische Beobachtungsstelle erklärte, türkische Truppen hätten innerhalb von 24 Stunden sieben syrische Dörfer eingenommen. Die Grenzstädte Ras al-Ain und Al-Darbasija seien fast komplett verlassen, nachdem die Anwohner geflüchtet seien.
Der Hohe UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi teilte mit, aktuell seien Hunderttausende Zivilisten in Nordsyrien in Gefahr. Die Verschärfung des Konflikts trage zur ohnehin größten Krise vertriebener Menschen weltweit bei.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) erinnerte daran, dass die Konfliktparteien rechtmäßig verpflichtet sind, Zivilisten zu verschonen. "Das ist ein Grundsatz internationalen humanitären Rechts", sagte der ICRC-Direktor im Nahen Osten, Fabrizio Carboni.
Ziel der seit Mittwoch laufenden türkischen Offensive ist die Kurdenmiliz YPG, die auf syrischer Seite der Grenze ein großes Gebiet kontrolliert. Die Türkei sieht in ihr einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in der Türkei und damit eine Terrororganisation. Die Türkei will entlang der Grenze eine sogenannte Sicherheitszone einrichten und dort auch syrische Flüchtlinge ansiedeln, die derzeit in der Türkei leben.
Die syrische Regierung kritisierte Erdogan scharf. "Er spricht davon, dass er sich dem Schutz des syrischen Volkes verpflichtet, ist dabei aber ein leichtsinniger, blutgetränkter Killer dieses Volkes", zitierte die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana eine Quelle im Außenministerium.
Mindestens 15 Zivilisten getötet
Seit Beginn der Offensive wurden laut Aktivisten mindestens 15 Zivilisten getötet. Erdogan sagte in Ankara, dass bei der Offensive bisher 109 "Terroristen" getötet worden seien. Mit "Terroristen" sind die Kämpfer der YPG-Miliz gemeint. Auch die Türkei meldete erste Opfer. Vier Menschen, darunter ein neun Monate altes syrisches Baby, seien gestorben, als Mörsergranaten und Raketen in türkischen Bezirken einschlugen, wie aus offiziellen Stellungnahmen hervorging. 70 Menschen seien verletzt worden.
Am Donnerstag wollte sich der UN-Sicherheitsrat in New York mit dem Vorgehen der Türkei beschäftigen. Deutschland habe im Auftrag der fünf EU-Mitgliedsländer des Rates - neben Deutschland sind das Polen, Belgien, Frankreich und Großbritannien - beantragt, dass das Thema in einer Sitzung angesprochen werde, hieß es aus Diplomatenkreisen.
Außenminister
AKK warnt vor Wiedererstarken der Terrormiliz Islamischer Staat
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) warnte am Donnerstag bei einem Besuch in Litauen vor einem Wiedererstarken der Terrormiliz Islamischer Staat. Damit sei auch die Gefahr des "Exportes von Terror und Terroristen auch hier nach Europa" gegeben. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (CDU), bezeichnete die Offensive im ARD-Mittagsmagazin als "völkerrechtswidrige militärische Intervention".
Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron warnte vor einem Wiedererstarken der Terrormiliz IS. Es bestehe das Risiko, dass diese ihr "Kalifat" wiederaufbauen könne, sagte Macron in Lyon. Die Verantwortung für dieses Risiko müsse die Türkei übernehmen. "Ich verurteile aufs Schärfste die einseitige militärische Offensive in Syrien und fordere die Türkei auf, sie so schnell wie möglich zu beenden", so der Präsident weiter. Frankreich hatte wegen der Offensive zuvor den türkischen Botschafter einbestellt.
Das Verteidigungsministeriums in Ankara erklärte auf Twitter, die "heldenhaften Soldaten" würden mit der "Operation Friedensquelle" im Osten des Flusses Euphrat weiter vorrücken. Die Grenzorte Tall Abjad und Ras al-Ain sind ein Hauptfokus der Offensive. Die Syrische Beobachtungsstelle berichtete auch von schwerem Artilleriebeschuss im weiter östlich gelegenen Ort Al-Darbasija. Türkische Truppen würden versuchen, den Ort einzunehmen.
Dem Norwegischen Flüchtlingsrat (NRC) zufolge leben in Syrien innerhalb von fünf Kilometern nahe der Grenze schätzungsweise 450 000 Menschen. Darunter sind 90 000 Vertriebene, die zuvor mindestens einmal vor Kämpfen im Land flüchten mussten. Der NRC warnte, dass der türkische Einsatz humanitäre Hilfen für die Region blockieren könnte. Schon am ersten Tag nach Beginn der Offensive seien der Betrieb von Krankenhäusern und der Wasserversorgung teils unterbrochen worden. (dpa/fra)
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