"Janukowitsch wird solange bleiben, wie er kann. Aber wir auch": In Kiew protestieren Tausende Menschen trotz Kälte und Tränengas gegen die ukrainische Regierung. Wer sind diese Menschen und was wollen sie? Eine Demonstrantin berichtet von der Stimmung in den Protestcamps, wie die Menschen sich organisieren und welche Rolle Vitali Klitschko spielt.
Wie kalt ist es bei euch derzeit im Protestcamp und wie haltet ihr euch warm?
Oksana, 27 Jahre alt: Heute am Tag hatte es plus ein Grad und nachts minus fünf. In der Nacht, als der Maidan-Platz sozusagen "gesäubert" wurde, waren es minus zehn Grad. Wir sind aber sehr gut vorbereitet. Wir ziehen uns warm an, tragen Skianzüge. Und wir werden ganz toll versorgt, sehr viele Freiwillige bringen uns Tee und Essen. Aber in Wirklichkeit werden wir vom Maidan aufgewärmt - wir sind zusammen, wir tanzen, wir springen. Der Maidan ist ein lebendiger Organismus, die Zellen funktionieren synchron zum Nutzen des gemeinsamen Ziels.
Wie habt ihr die Nacht in der vergangenen Woche erlebt, als die Einsatzkräfte mit Tränengas gegen euch vorgegangen sind?
Wie hatten keine Angst vor dem Tränengas, sondern vor allem vor der "Berkut"-Einheit, den Einsatzkräften des Innenministeriums. Sie haben uns eingekesselt, von allen Seiten. In diesem Moment waren nur wenige Menschen auf dem Maidan. Wir konnten nicht glauben, dass ausgerechnet an dem Tag, an dem der EU-Kommissar und der USA-Staatssekretär in Kiew waren, Janukowitsch den Befehl gibt, den Maidan zu stürmen.
Sind die Polizisten gewalttätig gegen die Demonstranten vorgegangen?
Die "Berkut"-Einheit war sehr aggressiv: Sie haben auf die Beine geschlagen, damit die Fotografen die Gewalt nicht festhalten konnten. Sie haben die Demonstranten zusammengeschlagen, sie weggezogen und auf die Autos geladen. Die Zelte wurden verbrannt und geplündert. Insgesamt hat es gewirkt wie ein aggressiver Versuch, den Maidan von den Demonstranten zu "säubern".
Wie war die Stimmung bei den Demonstranten, nachdem Janukowitsch seine Polizisten zurückgezogen hat?
Ein Befehl sich zurückzuziehen? Wir haben das nicht gehört und hatten davon keine Ahnung. Wir haben auf den Sonnenaufgang gewartet wie auf eine Rettung: Wir haben gehofft, dass wir dann nicht mehr angegriffen werden und dass sich die "Berkut"-Einheit zurückzieht. So kam es ja dann auch.
Janukowitsch lebt wie in einem Vakuum, in seiner eigenen Realität. Er versteht gar nicht, was hier vor sich geht. Er hofft immer noch, dass man uns ignorieren kann. Gerade an diesem Wochenende hat die Regierung alle Beamten und Mitarbeiter aus staatlich unterstützten Betrieben nach Kiew geschickt, um eine Gegendemonstration zur Unterstützung des Präsidenten zu organisieren. Menschen schreiben, dass sie dazu gezwungen werden und ihnen mit der Kündigung gedroht wird. Wie soll man sich dagegen wehren? Journalisten haben geschätzt, dass diese Aktion für das Land 200 Millionen Griwna (etwa 17,6 Millionen Euro, Anmerk. d. Red.) kostet! Die Regierung nimmt das in Kauf, obwohl wir vor dem wirtschaftlichen Kollaps stehen. Das zeigt: Janukowitsch wird solange bleiben, wie er kann. Aber wir auch.
Was ist anders als bei der Orangenen Revolution 2004?
Maidan ist eine Bewegung von unten nach oben. Das Volk selbst ist auf die Straßen gegangen. Es finanziert, unterstützt und organisiert sich selbst. Es beruht alles auf Selbstorganisation und bürgerlicher Solidarität. Diesmal hat das Volk den Prozess angestoßen und die Politiker sind dazu gekommen. Den Politikern wurde sozusagen erlaubt, den Prozess zu steuern. Die Geschwindigkeit und das Niveau der Selbstorganisation vom Volk ist fantastisch: Menschen spenden Geld, bringen Essen und Kleidung, arbeiten freiwillig als Köche, als Räumdienst, als Wächter. Unternehmen überweisen Geld, verzichten auf Betriebsfeiern und spenden das Geld für uns. Berühmte Anwälte verteidigen illegal Eingesperrte ohne Entgelt.
Bei uns im Westen wird Klitschko als "Oppositionsführer" wahrgenommen. Ist er das wirklich?
Die Opposition agiert abgestimmt. Den letzten Umfragen zufolge hat Klitschko das Vertrauen und die Unterstützung des Volkes. Aber wir sind begeistert, dass sich die Opposition gemeinsam für uns einsetzt. Das hat uns gezeigt, dass den drei führenden Oppositionspolitikern die Ukraine wichtiger ist als der Kampf um die Macht.
Repräsentieren die Demonstranten die gesamte Ukraine oder gibt es eine Spaltung in Ost und West, die eine Seite pro Russland und die andere prowestlich?
Auf dem Maidan sind die Vertreter der ganzen Ukraine - West, Ost, Krim und Zentrum. Und wir stehen lange nicht für Europa oder gegen Russland. Wir wollen in einem Land leben, in dem das Gesetz respektiert wird, in dem wir alle mit gleichen Regeln spielen können und die Regeln eingehalten werden. Wir wollen nicht in einer Diktatur wie in Weißrussland, einem Milizstaat oder Banditenstaat erwachen, wo nicht das Volk die Quelle der Macht ist.
Habt ihr Sorge davor, dass sich die Ukraine spaltet?
Nein, wir sind ein Land. Aber der Staatsmacht passt es, uns nach dem Gebiets- und Sprachenprinzip aufzuteilen, sodass wir selbst fast daran glauben. Auf dem Maidan ist aber die ganze Ukraine vertreten, auf dem Maidan spricht man russisch und ukrainisch. Wir sind eine Ukraine - und wir haben uns gemeinsam erhoben.
Übersetzt von Tanya Mannhardt
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