In Deutschland war im vergangenen Jahr fast jeder Fünfte von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Rund 684.000 Senioren beziehen Grundsicherung. "Der Sozialstaat und der Verteilungsstaat versagen", sagt Ulrich Schneider. Außerdem erklärt der Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, was er von der Ampel-Regierung hält und was seiner Ansicht nach gegen Armut hilft.
Herr Schneider, 14 Millionen Menschen sind in Deutschland von Armut betroffen - das ergab der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands 2022. Das sind knapp 17 Prozent der Bevölkerung. Wie kann das in einem reichen Land wie Deutschland sein?
Ulrich Schneider: Erstmal müssen wir feststellen: Wer sind überhaupt die Armen? Ein Drittel sind Rentnerinnen und Rentner. Ein Drittel sind arbeitslos und ein Drittel sind erwerbstätige Menschen. Dazu kommt, dass wir in Deutschland einen riesigen Niedriglohnsektor haben – Menschen haben zwar Arbeit, sind aber arm. Dazu wächst die Altersarmut. Bei immer mehr Menschen reicht die Rente nicht. Und das Netz sozialer Sicherung – etwa Bürgergeld, Altersgrundsicherung –, das eigentlich vor Armut schützen soll, hängt so tief, dass die Menschen, die darauf angewiesen sind, letztlich arm bleiben.
Versagt der Sozialstaat?
Es versagen der Sozialstaat und der Verteilungsstaat. Deutschland wird immer reicher, das Bruttoinlandsprodukt wird immer mehr - aber dieser Staat ist offensichtlich nicht in der Lage, diesen zunehmenden Reichtum auch ein bisschen gleichmäßiger zu verteilen. Das ist eigentlich Aufgabe der Sozialpolitik und der Steuerpolitik. Es passiert dort aber nicht genug.
Woran machen Sie das fest?
Einmal halten die Hartz-IV- beziehungsweise Bürgergeld-Regelsätze die Menschen in Armut. Ein Single bekommt heute 502 Euro im Monat, plus Wohnkosten. Für ein kleines Kind gibt es nur 318 Euro monatlich. Das reicht hinten und vorne nicht aus. Bei der Steuer- und Verteilungspolitik profitieren Wohlhabende überproportional von Entlastungen. Steuererhöhungen, mit denen man sehr reiche Haushalte stärker beteiligen könnte, lehnt die aktuelle Regierung dagegen wie schon die vorige ab. Das Ergebnis ist die zunehmende Ungleichverteilung, die wir in Deutschland haben. Reiche werden immer reicher, Arme werden immer mehr.
Ulrich Schneider zum Streit um Kindergrundsicherung: "Das ist ein Trauerspiel für diesen Sozialstaat"
Finanzminister
Herr Lindner hat in den Fakten erstmal recht. Viele Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind, beziehen nun bei uns Bürgergeld. Das sind vor allem Frauen mit ihren Kindern, die fast nichts bei sich haben. Hinter Lindners Feststellung steht aber die Frage: Ist es richtig, dass wir armen Menschen einfach mehr Geld geben? Das wiederum finde ich sehr perfide. Die Geflüchteten dürfen nicht so lange in Armut gelassen werden, bis sie endlich auf dem Arbeitsmarkt integriert sind. Die Leute brauchen jetzt Geld. Und wir haben auch deutsche Mütter und Väter, die nicht einfach zu vermitteln sind – und trotzdem Unterstützung bekommen. Ich halte es für fatal, wenn Herr Lindner ukrainische Kinder gegen die Kindergrundsicherung ausspielen will.
Stichwort Kindergrundsicherung: Was sagen Sie zum Streit in der Ampel-Regierung?
Der Streit ist zum Fremdschämen. Familienministerin
Wer ist denn in der Politik noch der politische Fürsprecher der Armen?
Eindeutig Frau Paus. Sie hat sich gegen den Widerstand in der Ampel für arme Kinder und für eine Kindergrundsicherung eingesetzt. Generell haben die Grünen zurzeit sicherlich das schärfste sozialpolitische Profil in der Ampel-Koalition. Wir haben hier eine ganze Reihe von Leuten, die sich für die Bekämpfung von Kinderarmut einsetzen. Das Problem ist die FDP, die davon denkbar wenig hält - und dafür immer wieder Rückhalt beim Kanzler findet.
Sie selbst waren früher Mitglied der Linken. Die Partei steht inzwischen vor der Spaltung. Wie würde sich das auf arme Menschen auswirken?
Die Linke hatte ein sehr starkes armutspolitisches Profil. Gerade der Noch-Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch hat Kinderarmut zu seinem Thema gemacht und die ganze Diskussion erheblich vorangetrieben. Doch durch die parteiinternen Querelen leidet dieses Profil.
Sahra Wagenknecht wird oft als der soziale Arm der Linken angesehen. Würde eine Wagenknecht-Partei mehr für die Armen tun als die jetzige Linke?
Man muss linke Politik zeitgemäß definieren, denn wir leben nicht mehr in einer Klassengesellschaft der 1920er-Jahre. Links sein heißt heute nicht mehr nur, für Arbeitnehmerrechte zu kämpfen, sondern sich auch den immer stärker werdenden Rechten entgegenzustellen, die unsere vielfältige Zuwanderungsgesellschaft bedrohen. Die Linke muss Vielfalt, Offenheit, das Miteinander und den Schutz von Minderheiten auf ihre Fahnen schreiben. Davon würde eine Sahra-Wagenknecht-Partei überhaupt nichts bieten können.
"Das beste Mittel gegen rechtsradikale Umtriebe ist eine solide Sozialpolitik"
In die Zukunft geschaut: Was macht immer mehr Armut mit unserer Gesellschaft?
Die Gesellschaft fällt auseinander, weil immer mehr Menschen nicht mehr am normalen Leben teilhaben können. Es bilden sich Subkulturen. Ebenso nehmen die sozialen Ängste in der Bevölkerung zu. Selbst die, die gar nicht von Armut betroffen sind, haben Angst, sie könnten bald von Armut betroffen sein: Wird meine Rente reichen? Wenn es darauf keine vernünftigen Antworten gibt, führt das zu einer Radikalisierung und macht es insbesondere Rechtsradikalen relativ einfach, den Volkszorn zu schüren – und gegen konstruktive Angebote zu hetzen.
Hilft Armutsbekämpfung gegen rechtspopulistische Parteien wie die AfD? Würde eine bessere Sozialpolitik wieder für weniger Zustimmung sorgen, als es derzeit der Fall ist?
Das beste Mittel gegen rechtsradikale und rechtsextreme Umtriebe ist eine solide Sozialpolitik.
Was fordern Sie von der Politik?
Die Politik muss dafür sorgen, dass endlich soziale Mindestleistungen wie das Bürgergeld auf ein Maß angehoben werden, das die Menschen vor Armut schützt. Nach Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle müsste ein armutsfester Regelsatz aktuell mindestens 725 Euro betragen. Sicherheit im Alter muss durch eine vernünftige Mindestrentenregelung und eine Bürgerrente gewährt werden, die wirklich alle einbezieht. Insbesondere reiche, sehr wohlhabende Haushalte müssen wesentlich stärker zur Finanzierung eines solidarischen Gemeinwesens herangezogen werden. Wir brauchen eine Vermögenssteuer, höhere Spitzensteuersätze in der Einkommenssteuer und eine deutlich höhere Erbschaftssteuer. Letztere betrifft nicht das vererbte Häuschen der Oma, sondern die Millionen-Erben, die gerade von den ganzen Ausnahmereglungen profitieren.
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