Vergangenes Jahr waren weltweit mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht - so viele wie nie zuvor. Die aktuellen Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR werfen die Frage nach der Verantwortung des Westens auf. Der Irakkrieg sei ein Kardinalfehler der vergangenen 25 Jahre gewesen, sagt der Politologe Thomas Jäger.

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Seit Mitte der 1990er Jahre haben Flucht und Vertreibung in den meisten Regionen weltweit zugenommen. In den vergangenen fünf Jahren schnellten die Zahlen rasant nach oben und nun wurde laut Jahresbericht des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR ein neuer globaler Höchststand erreicht. Jeder 113. Mensch war 2015 auf der Flucht, 65,3 Millionen insgesamt. Wir sprachen mit dem Politologen Thomas Jäger von der Universität Köln über wirtschaftliche Ausbeutung, folgenschwere Kriege und die Auswirkungen des Kolonialismus.

Herr Jäger, 65 Millionen Menschen befinden sich weltweit auf der Flucht. Welche Verantwortung trägt der Westen für diese Rekordzahl?

Thomas Jäger: Krieg, Unterdrückung und wirtschaftliche Not zwingen viele Menschen zur Flucht. Manche dieser Ursachen hängen auch mit den westlichen Gesellschaften zusammen. Zudem gibt es weltweit einfach Staaten, die erfolgreicher sind als andere und damit Anreize zur Migration setzen. Einige dieser Staaten agieren allerdings auch so, dass die Lebensbedingungen in den schwächeren Staaten verschlechtert werden.

Inwiefern?

Beispielsweise durch Waffenlieferungen, die politische Unterstützung von Diktatoren oder die wirtschaftliche Ausbeutung anderer Länder durch die Abschottung der eigenen Märkte.

Welche Entscheidungen des Westens haben die weltweiten Migrationsbewegungen verschärft?

Ein Kardinalfehler war der Irakkrieg 2003. Der von den USA und ihren Verbündeten geführte Krieg hat zur Destabilisierung einer ganzen Region und zu gewaltsamen Verhältnissen geführt - von der Osttürkei bis nach Syrien. Nicht zu vergessen die Nachbarstaaten, die Millionen von Migranten aufgenommen haben. Schließlich sind die Flüchtlinge nun auch in der EU angekommen.

250.000 Menschen haben den Irak verlassen, 4,4 Millionen Menschen sind innerhalb der Landesgrenzen auf der Flucht. War der Irakkrieg der folgenschwerste geopolitische Fehler des Westens seit dem Ende des Kalten Krieges?

Ja, das würde ich sagen. Die Idee der USA, im Irak einen Diktator militärisch zu beseitigen und ein demokratisches System zu etablieren, sollte einen Modellstaat schaffen. Einen Plan für eine stabile Nachkriegsordnung gab es allerdings nicht. Aber auch der Afghanistan-Krieg und das Eingreifen in Libyen sowie das zögerliche Wirken in Syrien haben enorm zum Anstieg der Flüchtlingszahlen beigetragen. In Afrika, nehmen Sie Nigeria und Eritrea, hat westlicher Einfluss ebenfalls zur Destabilisierung beigetragen und Menschen in die Flucht getrieben.

In welchen Regionen haben westliche Entscheidungen besonders dazu geführt, dass es dort so viele Flüchtlinge gibt?

Das ist schon der Mittlere Osten. Ich gehe aber davon aus, dass Afrika in Zukunft noch stärker betroffen sein wird. Nicht umsonst bemüht sich die EU durch den Casablanca- und Karthum-Prozess den von Armut und Migration besonders betroffenen Staaten finanziell unter die Arme zu greifen.

Im Paris-Abkommen hat die EU Afrika außerdem 100 Milliarden Euro zugesichert, um die Folgen des Klimawandels aufzufangen.

Reicht das Engagement aus?

Es wird viel zu wenig getan. Man versucht einen Beinbruch mit einer Mullbinde zu versorgen.

Leidet Afrika immer noch unter den Spätfolgen des europäischen Kolonialismus, z.B. ethnischen Konflikten durch willkürliche Grenzziehungen?

Ohne Zweifel sind die Auswirkungen des kolonialen Schattens spürbar. Jedoch würde ich die politische Verantwortung der lokalen Eliten für den desolaten Zustand einiger Staaten höher bewerten. Es überwiegt die Praxis, die eigene Herrschaft durch Korruption und Machtmissbrauch zu sichern.

Die meisten Flüchtlinge kommen aus dem globalen Süden. Verschärft sich der Nord-Süd-Konflikt?

Das ist ein falscher Begriff. Ich würde eher von einem Nord-Teilsüd-Konflikt sprechen. Denn einige Staaten Afrikas oder Asiens haben es durchaus geschafft, sich aus schwierigen Verhältnissen zu befreien.

Könnte man umgedreht auch sagen: Der Westen hat zwar Fehler gemacht, aber ohne sein Wirken, etwa durch Entwicklungshilfe, gäbe es noch mehr Migration?

Da gibt es ganz unterschiedliche Sichtweisen. Die einen sagen, ohne die Entwicklungszusammenarbeit wäre alles noch viel schlimmer. Die anderen sagen, die Gelder würden den Staaten nicht dauerhaft helfen. Ich bin da bei den Einzelfällen manchmal unschlüssig. Jedoch kann man feststellen, dass sich auch nach 50 Jahren Entwicklungshilfe die Lebensgrundlagen in vielen armen Ländern nicht wesentlich verändert haben. Die demografische Entwicklung spielt hier eine große Rolle.

Wie würden sie die Verantwortung des Westens für die Rekord-Migration abschließend beurteilen?

Der Westen trägt zweifellos eine Mitverantwortung. Neben den internationalen Ursachen sollten jedoch auch die inneren Verfehlungen in vielen Staaten nicht außer acht gelassen werden.

Prof. Dr. Thomas Jäger ist seit 1999 Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in internationalen Beziehungen sowie amerikanischer und deutscher Außenpolitik.
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