Ein aktueller Bericht der EU-Kommission bestätigt, was bereits seit Jahren bekannt ist: Ungarn mangelt es an Rechtsstaatlichkeit. Der ungarische Premier Viktor Orban hat deshalb einen Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verfasst. Dessen Inhalt ist eine Provokation, die bisher beispiellos ist.
Es ist ein Bericht, der in Ungarn für Aufsehen sorgt – und die EU zu blockieren droht. Am Mittwoch hat die EU-Kommission ihren ersten Rechtsstaatsbericht über alle Mitgliedsstaaten vorgestellt. Dabei untersuchte die Brüsseler Behörde erstmals systematisch den Zustand etwa von Gewaltenteilung, Medienvielfalt und Unabhängigkeit der Justiz in den EU-Ländern – und stellte zum Teil eklatante Mängel fest.
Besonders kritisch fiel der Rechtsstaats-Check bei Ungarn aus, am Ende wurden es 25 Seiten. Demnach fehle es dem mittelosteuropäischen Land bei Korruption auf hoher Ebene "offenbar durchweg an entschlossenem Handeln". Die EU-Kommission sieht zudem die Medienfreiheit und die institutionelle Gewaltenteilung eingeschränkt und habe "ein feindliches Umfeld für zivilgesellschaftliche Organisationen" ausgemacht.
Die zuständige Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourova sprach mit Blick auf Ungarns und die anderen 26 Berichte von einer "objektiven" Bewertung, "die als Grundlage für den Dialog mit den Mitgliedstaaten dienen soll".
Deutlicher wurde die Tschechin einige Tage vorher: In einem "Spiegel"-Interview warf sie Ungarns rechtsnationalistischem Ministerpräsidenten Viktor Orban vor, "eine kranke Demokratie" aufzubauen.
Ein harsches, wenn auch wenig überraschendes Urteil: Die Regierung in Budapest steht seit Jahren unter anderem wegen der Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz am Pranger der EU. Gegen das Land läuft ein Strafverfahren, das bis zum Entzug von Stimmrechten in der EU führen könnte. Bislang schrecken die Mitgliedstaaten aber vor einer solch weitreichenden Sanktion zurück.
Orbans Brandbrief an von der Leyen
Im Fall der EU-Kommissarin für Werte und Transparenz, Jourova, ging Orban zum Gegenangriff über – per Brief.
Am Dienstag veröffentlichte Ungarns Justizministerin Judit Varga das wütende Schreiben, das Orban an Jourovas Chefin geschickt hatte – an
Orban verlangt in dem Brief die unverzügliche Entfernung Jourovas aus ihrem Amt. Mit ihren Äußerungen habe sie "Ungarn und die ungarischen Menschen beleidigt", erklärte er. Solange von der Leyen die tschechische Politikerin nicht entlassen habe, setze Ungarn "alle bilateralen politischen Kontakte" mit Jourova aus.
Es ist wohl bisher einmalig, dass ein Staats- oder Regierungschef eines Mitgliedslandes den Rücktritt eines EU-Kommissars fordert – auf der Basis eines Berichts. Die kaum verhohlene Drohung und der Versuch, die Co-Autorin der Berichte zu diskreditierten sorgte in Brüssel für Aufsehen.
So empfahl der ehemalige europäische Liberalen-Chef und derzeitige Europaparlamentarier Guy Verhofstadt von der Leyen, den Brief zu entsorgen.
Die EU-Kommission erklärte hingegen, man werde auf Orbans Brief zu gegebener Zeit antworten. Ansonsten: kein Kommentar.
Der Vorgang macht aber klar, dass von der Leyen durchaus vor einem Dilemma steht: Sie wird Jourova nicht entlassen – zugleich ist die EU-Kommission aber auch auf Informationen auf und das Mitwirken von Ungarn angewiesen.
Streit droht EU teilweise lahmzulegen
Der Streit um Grundwerte und Rechtsstaatlichkeit in der EU droht den Staatenbund zumindest teilweise lahmzulegen. Denn am Mittwoch machte eine Mehrheit von EU-Staaten – ungeachtet von Drohungen aus Budapest – den Weg frei für ein Verfahren zur Bestrafung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit. In den anstehenden Verhandlungen mit dem Europaparlament könnte dieser Mechanismus sogar noch verschärft werden.
Brisant sind die Ereignisse vor allem deswegen, weil Ungarn und auch Polen – gegen das ebenfalls wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit ein EU-Strafverfahren läuft – mit einer Blockade von wichtigen EU-Entscheidungen zum langfristigen Gemeinschaftshaushalt drohen, sollte der neue Rechtsstaatsmechanismus eingeführt werden. Dies könnte zum Beispiel dazu führen, dass das geplante Corona-Konjunkturprogramm nicht starten kann.
Budapest und Warschau fürchten Kürzungen von EU-Finanzhilfen, wenn Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit künftig geahndet werden. Eine Entscheidungsgrundlage für mögliche Sanktionen sollen unter anderem die jetzt vorgelegten Rechtsstaatsberichte der EU-Kommission sein.
Wie der Konflikt gelöst werden könnte, ist vollkommen offen. Als wahrscheinlich gilt, dass die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten bei einem ihrer nächsten Gipfel über den Konflikt beraten müssen.
Ungarns Medien schießen gegen EU-Kommissionsvizepräsidentin
Derweil schossen sich die ungarischen Regierungsmedien weiter auf Jourova ein. Das Portal "Origo.hu" nannte sie eine "Marionette" des liberalen US-Investors und Demokratieförderers George Soros. In ihrer Zeit als EU-Kommissarin von 2014 bis 2019 habe sie "mindestens 18 Mal" Vertreter des von Soros gegründeten Open Society Instituts oder anderer mit Soros verbundener "Pseudo-Zivilorganisationen" getroffen.
Die regierungsnahe Budapester Tageszeitung "Magyar Nemzet" argumentierte gleich. Das Blatt warf der 56-Jährigen am Mittwoch vor, entweder zu lügen. "Oder sie hat ihren Job nicht gemacht, hat keine Ahnung und verachtet das ungarische Volk auf der Grundlage jener Desinformationen, die aus den Lügenfabriken der mit Soros in Zusammenhang stehenden Pseudo-Zivilorganisationen und der Linken stammen. Doch dann wäre nicht Ungarn krank, sondern sie selbst."
Ungarn und Polen wollen nun selbst Berichte zur Rechtsstaatlichkeit verfassen
Öffentlich wies die ungarische Regierung den Bericht als "absurd" zurück. Konzept und Methodik seien "untauglich". Das Dokument "kann nicht als Grundlage für eine weitere Diskussion über Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union dienen", hieß es aus Budapest.
Und die Regierung wird selbst aktiv: Zusammen mit Polen will Ungarn ein Institut gründen, das die Rechtsstaatlichkeit in allen EU-Ländern beurteilen soll.
"Das Ziel des Instituts wird es sein, nicht für dumm verkauft zu werden", sagte Ungarns Außenminister Peter Szijjarto laut der polnischen Zeitung "Rzeczpospolita". "Lange genug haben einige Politiker aus Westeuropa uns (Polen und Ungarn, Anm. d. Red.) als Boxsack benutzt."
Zur Erinnerung: Erst Mitte August hatte die investigative ungarische Nachrichten-Website "Atlatszo.hu" aufgedeckt, dass Szijjarto offenbar seinen Sommerurlaub auf einer luxuriösen Yacht verbrachte. Bilder zeigen ihn demnach auf dem Schiff des Bauunternehmers Laszlo Szijj in Kroatien. Szijj ist Ungarns viertreichster Geschäftsmann und hat in den vergangenen Jahren zahlreiche staatliche Ausschreibungen für sich entschieden.
Während der Zeit des Yachtaufenthalts hatte Szijjarto jedoch in Onlinenetzwerken Bilder von sich im Büro gepostet. Und erklärt, er habe mit EU-Kollegen am Telefon die Krise in Belarus erörtert. (afp/dpa/mf)
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