Der Islamische Staat beruft sich häufig auf den Koran, um seine Gräueltaten zu rechtfertigen. Doch ein Blick in die Heilige Schrift offenbart: Der IS missbraucht einzelne Verse und ignoriert andere – denn Mord, Sklaverei und Folter werden im Koran missbilligt.
Gerade als die Welt glaubte, alles Grauen des Islamischen Staats (IS) zu kennen, schlug die Terrorgruppe wieder zu: Im Februar verbrannte der IS einen jordanischen Kampfpiloten bei lebendigem Leib in einem Käfig. Für die selbsternannten Gotteskrieger war es ein weiterer Propagandacoup, der das Ausmaß ihrer Brutalität durchblicken ließ. Doch die Verbrennung ging sogar islamischen Theologen zu weit, die sonst den Salafisten nahestehen. Sie kritisierten, dass der Islam einen solch barbarischen Mord nicht dulde.
Dabei vergeht kaum eine Woche, die der IS nicht mit neuen, ähnlich grausamen Meldungen füllt: Frauen, die der Hexerei beschuldigt und getötet werden; oder Männer, die in einem Schwimmbecken ertränkt werden. Schon ein oberflächlicher Blick zeigt, wie menschenverachtend der IS vorgeht. Doch was offenbart eine tiefere theologische Analyse? Wie islamisch ist der Islamische Staat überhaupt? Und wo widerspricht er den Worten des Korans – die er doch sonst über alles stellt?
IS missbraucht Verse und reißt sie aus dem Kontext
Die Kämpfer des IS beanspruchen für sich, die reine Lehre des Islam zu verkörpern. Doch was sie vorbringen, ist häufig nicht mehr als eine verzerrte Interpretation des Korans. Das beste Beispiel ist der sogenannte "Schwertvers" (Sure 9, Vers 5). "Tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie und lauert ihnen aus jedem Hinterhalt auf!"
Mahmoud Abdallah vom Zentrum für Islamische Theologie der Universität Tübingen stellt jedoch klar: "Der Schwertvers ist kein Aufruf zum Krieg, sondern zur Verteidigung. Er wird vom Islamischen Staat aus seinem Kontext gerissen und missbraucht. Auf diese Weise versuchen radikale Kräfte häufig, ihr Vorgehen zu rechtfertigen."
Tatsächlich finden sich in derselben Sure auch Verse, die auf das Bedürfnis nach "Sicherheit" verweisen und einen Kriegszustand beschreiben. Etwa: "Wenn jemand von den Götzendienern dich um Schutz bittet, dann gewähre ihm Schutz." Doch ohne diesen wichtigen Zusatz, ohne diesen nötigen Kontext wird in der Lesart der IS-Ideologien schnell ein Ruf zum Angriffskrieg. Die Ideologen ignorieren zudem, dass viele Stellen in einem anderen historischen – oft auf eine bestimmte Situation bezogenen – Kontext entstanden und nicht einfach ins 21. Jahrhundert übertragbar sind. Obendrein blenden sie auch noch alle friedlichen Verse aus. Denn wer im Koran sucht, findet dort zahlreiche Passagen, die den Gräueltaten des IS klar widersprechen. Im Gespräch mit unserem Portal stellt Mahmoud Abdallah exemplarisch einige Verse vor.
Mord und Enthauptungen
Um seine Gewaltherrschaft auszuweiten, schreckt der Islamische Staat vor nichts zurück. Wer sich den Terrorkriegern in den Weg stellt, wird gnadenlos ermordet. Dabei heißt es im Koran: "Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne (dass es) einen Mord (begangen) oder auf der Erde Unheil gestiftet (hat), so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte." (5:32) Auffällig ist, dass hier nicht etwa nur "Gläubige" erwähnt werden, sondern explizit alle Menschen.
Ein weiteres Beispiel zeigt: "Allah verbietet euch nicht, gegenüber denjenigen, die nicht gegen euch der Religion wegen gekämpft und euch nicht aus euren Wohnstätten vertrieben haben, gütig zu sein und sie gerecht zu behandeln." (60:8) Auch für die Kritik vieler islamischer Gelehrter an der Verbrennung des jordanischen Kampfpiloten gibt es einen Grund. In den Hadithen, den Überlieferungen des Propheten Mohammed, heißt es: "Niemand darf mit dem Feuer bestrafen außer der Herr des Feuers." Also nur Gott – aber nicht der IS.
Zwang zum Glauben
Der IS teilt die Welt in Gläubige und Ungläubige. Nur wer seine radikal-religiösen Ansichten übernimmt, bleibt verschont. Jedoch steht im Koran genau das Gegenteil: "Es gibt keinen Zwang im Glauben." (2:256). Abdallah erklärt dazu: "Der Islam sieht alles auf der Welt als plural, bis auf den einen Gott. Die Verschiedenheit des Universums ist sogar ein Zeichen Gottes – und dazu gehören auch die verschiedenen Religionen." Das gelte auch innerhalb des Islams zwischen den unterschiedlichen Strömungen. Der Islamische Staat kümmert sich darum jedoch nicht und macht auch vor Schiiten nicht Halt.
Sklaverei
Zur Zeit der Entstehung des Islams sei es Tradition gewesen, Sklaven zu haben, bestätigt Abdallah. Doch das habe die Religion versucht zu ändern: "Der Islam hat immer gefordert, auf Sklaven zu verzichten. Sklaven sollte es unter den Menschen nicht geben, denn sie sind alle gleichwertig." Diese Haltung spiegle sich in den Konsequenzen für Sünden wider: "Wer einen Gläubigen aus Versehen tötet, (der hat) einen gläubigen Sklaven (zu) befreien." (4:92) Und falls jemand einen Eid bricht: "Die Sühne dafür besteht in der Speisung von zehn Armen in dem Maß, wie ihr eure Angehörigen im Durchschnitt speist, oder ihrer Bekleidung oder der Befreiung eines Sklaven." (5:89)
Bereits im vergangenen Herbst schrieben Hunderte islamische Gelehrte aus aller Welt einen offenen Brief an IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi. Über Sklaverei urteilten sie: "Ihr habt Frauen als eure Konkubinen genommen und somit Zwietracht und Verwirrung, Korruption und Unheil auf der Erde gesät. Ihr habt etwas wiederbelebt, was die Scharia unermüdlich aufzulösen versuchte."
Folter
"Folter ist im Islam verboten – man darf Menschen und Tiere nicht foltern", erläutert Abdallah. Das ließe sich leicht an einer anderen Überlieferung des Propheten erkennen: "Eine Frau ist in die Hölle gekommen, weil sie eine Katze nicht gefüttert und solange eingesperrt hat, bis diese verhungerte." Für Abdallah ist offensichtlich: "Das fällt eindeutig unter Folter." Und was schon bei Tieren streng bestraft werde, gelte bei Menschen erst recht.
Mord, Folter und Sklaverei – nimmt man diese Gräueltaten zusammen, entsteht ein eindeutiges Bild: Die Gotteskrieger mögen sich selbst Islamischer Staat nennen. Doch ihre Handlungen sind höchst unislamisch.
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