Mit der Wahlrechtsreform will die Ampelkoalition den Bundestag verkleinern. CDU/CSU und Linke halten sie allerdings für verfassungswidrig – und haben vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Am Dienstag fällt das Urteil.
Das politische Berlin ist gerade in der Sommerpause. Doch am Dienstag werden einige Politikerinnen und Politiker ihren Urlaub unterbrechen und nach Karlsruhe reisen. Dort verkündet das Bundesverfassungsgericht sein Urteil "in Sachen Bundeswahlgesetz 2023". Vordergründig mag es um eine technische Frage gehen. Doch Union und Linke sehen ihre Chancen im Wettbewerb der Parteien bedroht.
Mit der Wahlrechtsreform will die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP das Parlament verkleinern. Das deutsche Wahlsystem und die Entwicklung der Wahlergebnisse seit der Wiedervereinigung haben dafür gesorgt, dass der Bundestag größer und größer wurde. Normalerweise hätte er nach der vergangenen Bundestagswahl 598 Abgeordnete umfasst. Aktuell sind es 733.
"Wenn die Politik das Land reformieren will, dann darf sie sich selbst nicht ausnehmen. Dazu gehört es, ein unkontrolliertes Anwachsen des Deutschen Bundestages zu verhindern", sagt der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Konstantin Kuhle unserer Redaktion.
Kompliziertes deutsches Wahlrecht
Das Bundeswahlgesetz legt fest, wie bei einer Bundestagswahl die Wählerstimmen in Sitze umgerechnet werden. Mit der Erststimme wählt man einen Kandidaten oder eine Kandidatin im eigenen Wahlkreis und mit der Zweitstimme die Landesliste einer Partei. Bisher wurden 299 Direktmandate an die Gewinner in den 299 Wahlkreisen vergeben. Der Rest der Sitze wurde so aufgefüllt, dass die Sitzverteilung am Ende dem Verhältnis der Zweitstimmen entspricht.
Allerdings kam es bei den vergangenen Wahlen häufiger vor, dass Parteien mehr Direktmandate gewannen, als ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis zugestanden hätten. So entstanden sogenannte Überhangmandate. Um das Kräfteverhältnis zu wahren, bekamen die anderen Parteien Ausgleichsmandate. Und so wurde der Bundestag größer und größer.
Die Lösung der Ampel lautet nun: In Zukunft soll nicht mehr jeder Wahlkreisgewinner automatisch ein Mandat bekommen. Wenn eine Partei zum Beispiel in einem Bundesland sechs Direktmandate gewonnen, dem Zweitstimmenergebnis nach aber nur Recht auf vier Sitze hat, dann kommen die zwei Wahlkreisgewinner mit der niedrigsten Stimmenzahl nicht zum Zug. Die Koalition spricht vom Prinzip der Zweitstimmendeckung.
Die Zweitstimme soll damit gegenüber der Erststimme gestärkt werden. Besonders umstritten an der Reform ist aber die Abschaffung der Grundmandatsklausel. Generell werden bei der Sitzverteilung nur Parteien berücksichtigt, die mindestens fünf Prozent der Stimmen bekommen. Eine Ausnahme gilt bisher für Parteien, die mindestens drei Direktmandate gewinnen. Auch sie kommen zum Zug – über die sogenannte Grundmandatsklausel.
Grundmandatsklausel soll gestrichen werden
Da die Direktmandate in Zukunft eine geringere Rolle spielen, hat die Ampel die Grundmandatsklausel gestrichen. Damit stößt sie auf heftigen Widerstand. Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion, die bayerische Staatsregierung, die Linken-Gruppe sowie mehrere Tausend Privatpersonen haben gegen die Änderung des Bundeswahlgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt.
Die CSU befürchtet, durch die Wahlrechtsreform aus dem Bundestag fliegen zu können. 2021 erhielt die nur in Bayern antretende Partei auf den Bund umgerechnet 5,2 Prozent der Stimmen. Sollte sie bei zukünftigen Wahlen unter die Fünf-Prozent-Hürde rutschen, würden ihr auch Dutzende gewonnene Wahlkreise nichts nützen: Sie ginge dann komplett leer aus.
Man halte das neue Wahlrecht für verfassungswidrig, sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe, Alexander Hoffmann, unserer Redaktion. "Das ganze Vorgehen war eine fiese Attacke aus dem Hinterhalt", ärgert sich Hoffmann. SPD, Grüne und FDP hätten "rücksichtslos und handstreichartig" ein Wahlrecht zusammengezimmert, das nur dem Zweck diene, der Ampel auch künftig eine Mehrheit zu sichern, "indem man sich der Opposition entledigen will". Das sei "undemokratisch und inakzeptabel", sagt Hoffmann.
Während die AfD die Streichung der Grundmandatsklausel richtig findet und sie einst selbst ins Gespräch gebracht hat, ist auch die Linke auf den Barrikaden. Die Partei ist 2021 nur wegen der Grundmandatsklausel in den Bundestag eingezogen. "Die Linke möchte verhindern, dass zwei Oppositionsparteien – die CSU und die Linke – durch die Ampelregierung über den Weg der Wahlrechtsreform willkürlich aus dem Parlament gekegelt werden", sagt der Vorsitzende der Linken-Gruppe im Bundestag, Sören Pellmann unserer Redaktion. "Das verstößt aus der Sicht der Linken zutiefst gegen den demokratischen Anspruch des Grundgesetzes."
Koalition weist Kritik zurück
Das Szenario, die CSU könnte ganz aus dem Bundestag fliegen, hält der Grünen-Bundestagsabgeordnete Till Steffen für unrealistisch: "Die CSU war noch nie unter fünf Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie unter die Fünf-Prozent-Hürde rutscht, ist auch gering – zumindest bei der nächsten Bundestagswahl", sagt der Parlamentarische Geschäftsführer seiner Fraktion.
Die Vertreter der Koalitionsparteien finden, dass die Bedeutung der Direktmandate in der Debatte überbewertet wird. "Es gibt auch Wahlkreise, in denen Kandidaten mit nur wenig mehr als 18 Prozent auf dem ersten Platz liegen. Wer einen Wahlkreis gewinnt, ist häufig eher zufällig", sagt Steffen.
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Bundesverfassungsgericht könnte "Ja, aber …" sagen
Mit dem neuen Wahlrecht solle sichergestellt werden, dass alle Parteien gemäß ihrem Zweitstimmenanteil im Bundestag vertreten sind, meint FDP-Politiker Kuhle. "Es ist wichtig, dass das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf diese sogenannte Zweitstimmendeckung rechtliche Klarheit schafft."
Das letzte Wort haben am Dienstag also die Richterinnen und Richter. Sie müssen sich nicht zwingend auf eine der beiden Seiten schlagen. Denkbar ist auch, dass sie die Wahlrechtsreform im Grundsatz absegnen – aber die Streichung der Grundmandatsklausel verbieten.
Sollte die Politik noch einmal nacharbeiten müssen, müsste es schnell gehen, damit das neue Wahlrecht zur nächsten regulären Wahl im September 2025 greift. In den vergangenen Jahren haben sich die Koalitionsparteien nicht mit der Opposition auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können. Könnte ein neuer Anlauf zusammen mit ihnen gelingen?
"Wir haben schon über diese Reform mit der Union diskutiert", sagt Grünen-Politiker Till Steffen. "So würden wir es auch wieder halten – wenn die Union denn überhaupt daran interessiert ist, mit uns zu einem gemeinsamen Modell zu kommen."
Verwendete Quellen
- Stellungnahmen von Alexander Hoffmann, Konstantin Kuhle und Sören Pellmann
- Telefonat mit Till Steffen
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