Durchhaltevermögen, Leidenschaft und Teamgeist führen Spitzensportler zum Erfolg, sagt Verena Bentele. Die 36-Jährige weiß, wovon sie spricht: Zwölfmal holte sie bei den Paralympics Gold. Ihre sportliche Karriere hat sie längst beendet. Ihre Stärken aber setzt sie weiter ein – für Sozialpolitik. Wie sie das macht und wie durchsetzungsfähig sie sein kann, darüber haben wir mit der neuen VdK-Präsidentin gesprochen.
Frau Bentele, Sie sind seit Mai 2018 Präsidentin des Sozialverbands VdK. Damit haben Sie sich dem Thema soziale Gerechtigkeit verschrieben. Was bedeutet das für Sie?
Verena Bentele: Soziale Gerechtigkeit bedeutet, dass alle Menschen in unserem Land am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Jeder sollte die Möglichkeit haben, an Wohlstand, Bildung und Kultur zu partizipieren. Sozial gerecht meint auch, dass Unternehmen nicht nur ihre Gewinne maximieren, sondern die Beschäftigten daran beteiligen.
Zudem müssen wir überlegen, wie wir die Pflege organisieren und Armut vermeiden können, ganz gleich ob Kinderarmut oder Armut älterer Menschen. Diese Herausforderungen können nur gemeistert werden, wenn die Gesellschaft mit der Politik und den Unternehmen gemeinsam nach Lösungen strebt.
Können Sie das näher erläutern?
Der Zugang zu guter Bildung ist essenziell. Allerdings entscheidet auch heute noch zu oft der soziale Hintergrund, ob jemand gute Bildungschancen hat. Im zweiten Schritt müssen wir für gute Arbeitsbedingungen sorgen. Das bedeutet, Arbeit darf nicht krank machen und sie muss gut bezahlt werden.
Der Verdienst sollte zudem die Möglichkeit bieten, für den Fall von Krankheit und Pflege vorzusorgen. Auch muss der Mindestlohn über zwölf Euro liegen, damit die Arbeitnehmer nach einem Leben voller Arbeit im Alter eine Rente oberhalb der Grundsicherung erhalten.
Sie begleiten die Rentenkommission der Bundesregierung. Das Thema liegt Ihnen sehr am Herzen …
Das Thema Rente ist mir sehr wichtig. Es gibt immer mehr Menschen, die viel gearbeitet haben und deren Lebensqualität und Teilhabemöglichkeiten extrem eingeschränkt sind, weil ihre Rente nicht reicht. Die Lebensleistung darf nicht mit einer Grundsicherung abgespeist werden.
Nehmen Sie etwa alleinerziehende Frauen mit Teilzeitjob. Allzu oft sind diese Frauen als Rentnerinnen auf die Grundsicherung angewiesen, stehen teils an den Tafeln Schlange und können nicht mal mehr eine Tasse Kaffee trinken gehen. Hier müssen wir dringend handeln. Deshalb muss die Rente nach Mindestentgeltpunkten, die 1992 abgeschafft wurde, wieder eingeführt werden.
Was halten Sie von
Zunächst müssen wir feststellen, dass die Menschen in unserem Land der gesetzlichen Altersvorsorge nicht mehr vertrauen: Nach einer neuen Studie haben 80 Prozent der Beschäftigten zwischen 20 und 45 Angst vor Altersarmut. Viele Maßnahmen des Rentenpakets gehen zwar in die richtige Richtung, bleiben jedoch auf halber Strecke stehen. So ist es zu begrüßen, dass das weitere Absinken des Rentenniveaus zunächst gestoppt werden soll.
Die eigentliche Frage ist doch, wie es mit dem Rentenniveau nach 2025 weitergeht. Experten von der Bertelsmann-Stiftung haben im letzten Jahr davor gewarnt, dass es bis 2045 auf 41,6 Prozent sinken könnte. Ist das nicht Augenwischerei?
Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass die prinzipiell richtigen Maßnahmen auf halber Strecke stehen bleiben. Nach den aktuellen Prognosen sinkt das Rentenniveau zwar vor 2025. Dass es nur bis 2025 festgeschrieben wird, reicht dem VdK nicht. Um wieder das Vertrauen der Bevölkerung in die gesetzliche Rentenversicherung zu stärken, brauchen wir eine langfristige Lösung. Außerdem wollen wir eine Anhebung des Rentenniveaus auf 50 Prozent. Eine Stabilisierung ist uns zu wenig.
Was halten Sie von den Plänen bezüglich der Erwerbsminderung? Künftig sollen Betroffene so behandelt werden, wie wenn sie bis zum aktuellen Rentenalter gearbeitet hätten …
Ich finde das sehr gut, wünsche mir allerdings, dass die Verbesserungen auch für die jetzigen Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner gelten.
Der Arbeitsminister plant zudem eine Mütterrente II. Wie bewerten Sie diese Maßnahme?
Es ist so, dass im derzeitigen Entwurf des Rentenpakts nur die Mütter und Väter mit drei und mehr Kindern ein drittes Jahr Kindererziehungszeit für vor 1992 geborene Kinder erhalten. Die Frauen, die nur ein oder zwei Kinder geboren haben, bekommen nichts. Das ist eine Ungleichbehandlung, die wir so nicht stehenlassen dürfen.
Außerdem werden die Rentnerinnen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, von der Mütterrente nichts haben, da sie komplett angerechnet wird. Wenn es aber Freibeträge gäbe, so wie wir sie in der privaten und betrieblichen Altersvorsorge haben, dann hätten diese Frauen tatsächlich etwas von ihrer Mütterrente.
Wie können Sie sich als VdK-Präsidentin beim Thema Rente einbringen?
Meine Ansatzpunkte sind Bewusstseinsbildung, Interessensvertretung und Öffentlichkeitsarbeit. Wir haben fast 1,9 Millionen Mitglieder im VdK. Dadurch können wir natürlich politischen Druck aufbauen. Zudem müssen wir mit den Regierungsparteien und mit Abgeordneten in den Diskurs gehen und über Lösungsansätze sprechen. Wichtig ist mir aber auch, dass wir alte und junge Menschen vertreten, dafür stehe ich als 36-jährige Präsidentin.
Wo müsste man bei der Rente noch ansetzen?
In Deutschland gibt es viele Berufsgruppen, die nicht in die Rentenversicherung einzahlen. Das halte ich für extrem unfair und unlogisch. Es müssen endlich auch Beamte und Selbstständige einzahlen. Natürlich braucht es für eine solche Regelung eine lange Übergangsfrist. Eine weitere Überlegung ist, dass Arbeitgeber einen höheren Rentenbeitrag zahlen als Arbeitnehmer – wie besipielsweise in Österreich.
Bezahlbares Wohnen ist ebenfalls ein Thema, das den Bürgern unter den Nägeln brennt. Viele Menschen haben große Angst davor, sich Wohnen nicht mehr leisten zu können. Wie kann man hier für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen?
Wir müssen schnell handeln und bezahlbaren, barrierefreien und altersgerechten Wohnraum schaffen. Und da müssen alle an einem Strang ziehen: Bund, Länder und Kommunen. Außerdem – und das hören sicher einige nicht gern – bin ich sicher, dass es ohne einen staatlichen Eingriff in den Miet- und Wohnungsmarkt nicht gehen wird.
Die Mietpreisbremse ist zwar eine Möglichkeit, gegenzusteuern, aber ihre Umsetzung ist nur schwer zu kontrollieren. Nur, wenn wir es nicht schaffen, die Mieten endlich zu steuern, dann laufen wir Gefahr, dass sich die Gesellschaft extrem spaltet. Mieten und Wohnen ist ein Grundrecht und dieses Grundrecht sehe ich im Moment absolut bedroht.
Sie sind auch in der Konzertierten Aktion Pflege der Regierung eingebunden. Was muss sich hier bewegen?
Viel. Herr Spahn möchte 13.000 neue Stellen schaffen. Das reicht uns nicht. Allerdings müssen auch diese 13.000 Personen erst mal gefunden werden. Das ist gar nicht so einfach. Ein Schlüssel für Personalgewinnung wird sein, dass sich die Rahmenbedingungen für den Pflegeberuf ändern und Anreize geschaffen werden.
Welche Anreize könnten das sein?
Man könnte für Mädchen und Jungen ein Jahr nach dem Schulabschluss einführen, in dem sie gesellschaftliche Arbeit leisten. So können sie in soziale, ökologische oder andere gemeinnützige Berufe reinschnuppern. Außerdem muss die Arbeit besser bezahlt werden, damit die Menschen davon leben und ihre Familien ernähren können. Denkbar wäre auch, Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Zudem müsste man Pflegerinnen und Pfleger bei der Gesundheitsprävention noch besser unterstützen. Denn der Beruf ist körperlich und mental sehr belastend.
Die Menschen – so scheint es – verlieren den Glauben daran, dass die Politik die Probleme unserer Zeit wirklich lösen kann. Inwiefern hat die Politik gerade bei dem Thema soziale Gerechtigkeit ein Glaubwürdigkeitsproblem?
Soziale Gerechtigkeit ist der Schlüssel für gesellschaftlichen Frieden. Deshalb müssen die politisch Verantwortlichen hier deutlichere Zeichen setzen, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückgewinnen. Das bedeutet, sie müssten auch mal Maßnahmen umsetzen, die den Menschen das Gefühl geben, dass sie sich für sie einsetzen, für sie sorgen. Das funktioniert nicht mit Politik im Kleinen. Wenn bald der Großteil der Bevölkerung kaum mehr das Geld für die Miete aufbringen kann, dann sind schöne Worte sicher nicht genug, um Vertrauen zu schaffen.
Sie sind zwölfmalige Paralympics-Siegerin und waren die erste Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Inwiefern hilft Ihnen Ihre innere Stärke bei der Arbeit beim VdK?
Das hilft sehr, denn ich weiß, dass man mit Durchhaltevermögen, Leidenschaft und Teamgeist wirklich etwas erreichen kann. Und wenn ich etwas angehe, dann richtig. Ich habe eine klare Vorstellung von meinen Zielen und kämpfe dafür. Sich auf ein Ziel zu fokussieren ist eine Stärke von Sportlern.
Der Erfolg als Sportlerin gibt Ihnen recht. Für wie durchsetzungsfähig halten Sie sich als politische Stimme?
Das ist eine schöne Frage, nur müssten die eigentlich andere beurteilen. Der Sozialverband VdK Deutschland vertritt wie gesagt fast 1,9 Millionen Mitglieder und deshalb bin ich sicher, dass meine Stimme als Präsidentin gehört wird. Ich selbst halte mich für durchsetzungsfähig. Wenn man authentisch ist und den Menschen Dinge verständlich erklärt, hilft das sehr. Und etwas Humor in der Politik ist übrigens auch nicht schlecht. Hier wünsche ich mir daher wieder mehr Politikertypen, die in der Sache ernsthaft sind, die Humor haben und authentisch sind.
Diese Typen in der Politik vermissen viele. Vielleicht sind Sie ein solcher? Wenn man sich Ihren Werdegang anschaut, ist der Gedanke doch gar nicht so abwegig und Sie haben einmal gesagt, dass man alles mal ausprobieren sollte.
Absolut. Ich bin im Mai diesen Jahres zur neuen Präsidentin des größten Sozialverbands Deutschlands gewählt worden. Neben meiner Arbeit als Coach und Keynote-Speakerin für Unternehmen kann ich meine politische Power auf Themen wie Rente, Pflege, Steuerpolitik und Wohnen konzentrieren.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.