- Im Mai waren so viele Züge der Deutschen Bahn unpünktlich wie seit Anfang 2010 nicht mehr.
- Bahnchef Richard Lutz hat die Probleme eingestanden und verschiedene Maßnahmen angekündigt.
- Die kommenden Monate ist aber erst einmal mit weiteren Problemen zu rechnen.
Bahnkunden haben es aktuell immer häufiger mit Verspätungen zu tun. Im Mai waren 62,7 Prozent der Fernzüge pünktlich, wie ein Bahnsprecher am Freitag sagte. Das ist der niedrigste Monatswert seit Januar 2010, als ein schneereicher Winter die Züge bremste. "Weiterhin haben Baustellen insbesondere in vielbefahrenen Abschnitten des Netzes die Pünktlichkeit massiv beeinträchtigt", erklärte der Sprecher.
Das betraf auch Regionalzüge. 92,3 Prozent von ihnen kamen pünktlich, der bislang schwächste Wert in diesem Jahr. Nach Bahndefinition sind Halte mit weniger als sechs Minuten Verspätung pünktlich. Konzernchef Richard Lutz hatte am Montag das Ziel aufgegeben, im Gesamtjahr im Fernverkehr mit ICE, Intercity und Eurocity eine Pünktlichkeit von 80 Prozent zu erreichen. Bislang seien in diesem Jahr knapp über 70 Prozent der Fernzüge pünktlich gewesen, sagte er. Im vergangenen Jahr waren 75 Prozent dieser Züge pünktlich.
Im April kam fast jeder dritte Fernzug zu spät. Das ursprüngliche Pünktlichkeitsziel für 2022 gab Lutz am Montag auf. Auch die Industrie klagt seit Monaten über die Bahn, zeitweise standen 400 Güterzüge still. Auch wenn die Bahn ihr Angebot attraktiver machen will, bleibt die Lage aktuell erst einmal schwierig. Ein Überblick:
Warum gibt es so viele Probleme bei der Deutschen Bahn?
Zwei Gründe: Das Netz hat zu viele Engstellen und Schienen, Weichen und Brücken sind in die Jahre gekommen. In Berichten zum Netzzustand ist zwar noch von "qualitativ hochwertigem Zustand der Schienenwege" die Rede, doch Lutz bekennt nun, dass der Investitionsstau weiter wächst. Schon jetzt wird auf Rekordniveau gebaut, für rund 14 Milliarden Euro allein 2022. Doch der Spagat zwischen Bauen und Fahren gleichzeitig - er will nicht so recht gelingen.
Was will das Management jetzt anders machen?
Lange schon spricht die Bahn davon, Baustellen stärker zu bündeln - etwa an einer Strecke Weichen, Signale oder Leitungen nicht nacheinander zu erneuern, sondern zeitgleich. Kapazitätsschonendes Bauen nannte Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla das.
Wenige Wochen nach seinem Abgang kündigt Lutz an: "Wir müssen dieses Thema grundsätzlicher und radikaler angehen. Lieber eine große statt vieler kleiner Sperrungen." Setzte Pofalla auch stark auf digitale Technik, schränkt Lutz ein: "Wenn ich eine störanfällige Infrastruktur digitalisiere, bleibt es eine störanfällige Infrastruktur." Sein Ziel ist es, ein "Hochleistungsnetz" zu bauen.
Was bedeutet das für die Fahrgäste?
Das kann bedeuten, dass Strecken monatelang voll gesperrt werden. Lutz bekennt ungewohnt deutlich: "Gleichzeitig wachsen und modernisieren auf vielen Korridoren ist mit gleichbleibender Qualität nicht mehr möglich." Will sagen: Es wird Umleitungen geben, Zugausfälle, Bahnfrust. "Die Bahnverkehrsunternehmen und die Kunden werden durch ein Tal der Tränen gehen", sagte der Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, Klaus-Dieter Hommel. Lutz sagt: "Mit jedem Korridor, den wir sanieren, wird es besser."
Auf welchen Strecken wird wann gebaut?
Die Bahn hat die wichtigen Korridore im Blick, das Kernnetz, das lange überlastet ist und wo Verspätungen sich auf das ganze Netz auswirken. Dazu zählen etwa Dortmund-Duisburg-Düsseldorf-Köln oder die Knoten München und Hamburg. Wann und wo gebaut wird, steht aber noch nicht fest. Es wird viele Gespräche mit dem Bund und anderen Bahnunternehmen geben müssen. Erste Eckpunkte sollen aber vor der Sommerpause stehen. Lutz' Ziel: von 2024 an jährlich zwei bis drei dieser Korridore sanieren, um vor 2030 mit allem fertig zu werden. Ist ein Abschnitt saniert, soll er dann jahrelang "baufrei" bleiben.
Wie wird die Versorgung der Industrie sichergestellt?
Für die Industrie ist es jetzt schon nicht leicht. Seit Monaten gibt es Probleme. Baumaßnahmen und Störungen seien kaum noch beherrschbar, seufzte kürzlich ein Cargo-Manager in einem Mitarbeiter-Video. Spätestens wenn die Bahn Güter auf Lastwagen umlädt, weil die Züge nicht mehr durchkommen, läuft etwas falsch. Doch künftig wird das wohl häufiger der Fall sein, wie Lutz deutlich machte. Das sei besser als Produktionsausfälle: "Das gehört zur Ehrlichkeit dazu."
Wie soll so die Verkehrswende gelingen?
"Wenn wir so weiter machen wir bisher, wird es nicht gelingen", sagt Lutz. Er will, dass nach der Generalsanierung mehr Menschen und Güter auf der Schiene transportiert werden können - und dass die Kunden während der Arbeiten nicht abwandern. Güterverkehr auch nur zwischenzeitlich auf die Straße zu verlegen, kommt dagegen für die Cargo-Konkurrenten nicht infrage. "Wer die Wachstumsziele für die Branche und die Klimaschutzziele einhalten will, kann nicht ernsthaft die Verlagerung auf die Straße in die Rechnung aufnehmen", kritisierte das Netzwerk Europäischer Eisenbahnen.
Wieviel kostet die Generalsanierung?
Die Bahn hatte den Investitionsstau im gesamten Netz zuletzt auf knapp 60 Milliarden Euro beziffert. Allein durch die stark steigenden Baukosten dürfte das schnell mehr werden. Für "Premium-Standard" will Lutz außerdem an den wichtigen Strecken die Bahnübergänge beseitigen - was zusätzlich teure Brücken oder Unterführungen notwendig macht. Es brauche deutlich mehr Mittel für die Infrastruktur, meint die EVG.
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Die Konkurrenten der Bahn zweifeln daran, dass es dem Staatskonzern gelingt, Baustellen besser zu bündeln. Denn das Geld dafür komme aus zu vielen verschiedenen Töpfen. "Wollte man hier grundsätzlich ran, wäre dies auch ein Politikum", teilte der Verband Mofair mit. Er fürchtet, dass darüber der vom Bund geplante Aufbau einer gemeinwohlorientierten Infrastruktursparte auf der Strecke bleibt.
Was sagt der Bahnbeauftragte der Bundesregierung?
Michael Theurer (FDP) sieht einen erheblichen Investitions- und Sanierungsstau bei der Bahn. Dieser müsse nun abgearbeitet werden, sagte der Parlamentarische Staatssekretär im Verkehrsministerium am Mittwoch. Er bewerte die Ankündigung von Lutz als "erste Reaktion auf den Druck", den das Verkehrsministerium auf die Deutsche Bahn mache. Die neue Leitung des Verkehrsministeriums habe das Problem nicht verursacht, sondern "angetroffen", bewertet Theurer: "Wir machen da keine Schuldzuweisung. Also manche sagen hier spaßhaft, das sei Pofallas Erbe."
Der frühere Kanzleramtschef Ronald Pofalla hatte jahrelang das Infrastrukturressort bei der Deutschen Bahn geleitet, hat das Unternehmen aber inzwischen verlassen. Theurer machte außerdem deutlich, das Baustellenmanagement bei der Bahn müsse verbessert werden. Es stelle sich die Frage, ob man "unterm rollenden Rad", also bei laufendem Betrieb, bauen oder Strecken komplett sperren müsse.
Dies werde auch Gegenstand einer "Beschleunigungskommission" sein, die noch vor der Sommerpause starten werde. Ziel sei, dass die Kommission bis Ende des Jahres konkrete Handlungsempfehlungen vorlege, auch um die Kapazitäten zu steigern. Theurers Vorgänger, Enak Ferlemann (CDU), sagte der "Zeit" diese Woche, das aktuelle Bahnmanagement agiere "skandalös und unprofessionell". (dpa/okb)
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