Wehrpflicht, Bundeswehr, Ukrainekrieg: Verteidigung ist eines der größten Themen im neuen Koalitionsvertrag. Was kündigen Union und SPD an, wo bleiben sie vage? Militärexperte Gustav Gressel gibt eine Einschätzung zu den geplanten Maßnahmen – und erklärt, wo es noch gehörig knirschen könnte.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Union und SPD lassen keinen Zweifel daran, dass sie den Ernst der Lage verstanden haben. "Unsere Sicherheit ist heute so stark bedroht wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr", heißt es im Kapitel zu Außen- und Verteidigungspolitik des Koalitionsvertrags gleich zu Anfang. "Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkrieges müssen Deutschland und Europa in der Lage sein, ihre Sicherheit deutlich umfassender selbst zu gewährleisten"

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Der Schluss, den die Koalitionäre daraus ziehen: Man wolle sich verteidigen können, "um sich nicht verteidigen zu müssen."

Die größte Bedrohung gehe dabei von Russland aus. Dass das alles Geld kostet, ist Schwarz-Rot klar: Die Verteidigungsausgaben sollen in Zukunft nicht mehr der Haushaltsdisziplin unterworfen sein.

Mehr Geld, mehr Tempo

Die Ausgaben sollen sich stattdessen an den "in der NATO gemeinsam vereinbarten Fähigkeitszielen" orientieren. Hier heißt es also noch abwarten – im Juni findet ein NATO-Gipfel statt. Erst dann dürfte sich abzeichnen, wie viel Geld die Mitglieder künftig genau einplanen müssen.

Für Militärexperte Gustav Gressel steht aber schon jetzt fest: "Die Ausgaben müssen drastisch steigen – auch das Dauerbudget. Denn Dinge, die man über ein Sondervermögen kauft, haben Betriebskosten und die Vergrößerung der Bundeswehr wird natürlich auch mehr kosten."

Mehr Tempo will die neue Regierung durch ein "Planungs- und Beschaffungsbeschleunigungsgesetz" gewährleisten. Keine neue Idee: So eins hatte die Ampelkoalition allerdings bereits im Juli 2022 verabschiedet.

Rangehen will man aber noch einmal an die Beteiligung des Parlaments an diese Prozesse. Bislang muss selbiges allen Beschaffungen und Entwicklungsprojekten der Truppe für 25 Millionen oder mehr zustimmen. Man spricht dabei von sogenannten Beschaffungsvorlagen.

Wenn es nach Schwarz-Rot geht, soll die "Höhe des Schwellenwertes" für genau diese erhöht werden. Heißt: Die Zustimmung des Parlament wäre erst ab einem merklich höheren Betrag notwendig.

Keine Rückkehr zur Wehrpflicht

Eine Wehrpflicht haben Schwarz-Rot nicht in ihr Papier geschrieben. Zumindest vorerst soll sie nicht kommen. Die Koalitionäre sprechen von einem "neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert". Verpflichtend ist für junge Männer damit erstmal nur das Ausfüllen eines Fragebogens zur Wehrerfassung.

"Zunächst" heißt aber: Findet man die erforderlichen Soldatinnen und Soldaten nicht, dürfte sich das ändern. Gressel fehlen darüber hinaus aber konkrete Personalziele im Papier. "Jeder weiß, dass die Bundeswehr aufwachsen wird müssen. Ich bin nur halb überzeugt, ob das freiwillige Modell etwas bringt", sagt er. Man fahre auf der vorsichtigen Schiene.

Sicherheitsgarantien für die Ukraine

Schwarz-Rot versprechen in dem Papier "materielle und politische Sicherheitsgarantien für eine souveräne Ukraine." Gressel sagt: "Das unterscheidet sich nicht großartig von dem, was die alte Bundesregierung gemacht hat."

Problematisch sei nur, wenn so etwas unter Budgetvorbehalt geschehe. "Man hat in der Vergangenheit Dinge versprochen und dann das Geld dafür zurückgezogen", erinnert Gressel. Am Ende kommt es darauf an, ob man das Versprechen ernst nehme und wirklich budgetiere.

Festhalten am NATO-Beitritt

Im Koalitionspapier heißt es: "Unser Bekenntnis zur NATO und zur EU bleibt unverrückbar". Dazu zählt auch, die NATO-Beitrittsperspektive für die Ukraine aufrechtzuerhalten. "Scholz und die USA waren hier die größten Bremser. Die übrigen europäischen Staaten wollten eine klare und verbindliche Einladung der Ukraine, dass sie nach Beendigung der Kampfhandlungen in die NATO kommt", sagt Gressel.

Im Koalitionsvertrag sei zwar nicht genau beschrieben, unter welchen Bedingungen und in welcher Geschwindigkeit man die Ukraine tatsächlich einladen wolle, es sei aber ein Pflock, der eingeschlagen werde.

"Deutschland ist zumindest kein Staat, der gewillt ist, diesen NATO-Beitritt der Ukraine a priori irgendwo als Zugeständnis an die Russen zu opfern, um irgendwelche nebulösen Gespräche über mögliche Waffenstillstände zu ermöglichen", betont Gressel.

Bundeswehr als Vorbild

Die Bundeswehr soll, wenn es nach Schwarz-Rot geht, "Vorbild im Kreis unserer Verbündeten" werden. Gressel sagt dazu: "Dass die Bundeswehr Vorbild für andere Nationen sein soll, ist kein neues Konzept." Das deutsche "Rahmennation-Konzept" wurde bereits vor über zehn Jahren vorgestellt.

Die Idee dahinter: Deutschland stellt als "Rahmennation" die militärische Grundausstattung und kleinere Staaten bringen Spezialfähigkeiten, wie etwa Luftabwehr ein. So müssen nicht alle europäischen NATO-Staaten alle militärischen Fähigkeiten vorhalten.

"Politisches Bekenntnis ohne viel Leben"

Gustav Gressel

In der Vergangenheit hat das laut Gressel in Teilen funktioniert. Die Kooperation mit den Niederlanden sei beispielsweise erfolgreich, Länder wie Tschechien und Rumänien seien von Deutschland jedoch eher enttäuscht worden. Deutschland habe keine großen Übungen veranstaltet, sondern diese innerhalb der NATO eher blockiert. Die Einladungen zu den großen Übungen seien aus den USA gekommen.

"Das Ganze war in der Vergangenheit ein politisches Bekenntnis ohne viel Leben", so Gressel. Im Zuge der Ukraine-Unterstützung sei die Scheu vor der gemeinsamen Verteidigung jedoch gesunken, sodass Gressel meint: "Es gibt die Chance, dass man in die Gänge kommt."

Nationaler Sicherheitsrat als Chance

Mit der Idee eines Nationalen Sicherheitsrats samt Lagezentrum konnte die Union sich in den Verhandlungen durchsetzen. Gressel hält das grundsätzlich für eine gute Idee. "Das hat den Wert einer ständigen Verfolgung des Weltgeschehens", sagt er. Man werde in der Bundesregierung dazu gezwungen, zu gewissen Problemen ständig Stellung zu nehmen – "nicht erst, wenn es zu spät ist", so der Experte.

Er erinnert: "Wir haben uns zur Ukraine-Unterstützung Gedanken gemacht, als Russland die Vollinvasion vom Zaun gebrochen hat. Wir haben uns über Flüchtlinge Gedanken gemacht, als sie 2015 plötzlich über die Grenze marschiert sind."

Das sei alles viel zu spät gewesen. "Solche Strukturen können helfen, dass solche Versäumnisse nicht noch einmal passieren und man bessere Entscheidungen trifft. Aber man muss das auch leben", sagt er.

Idee scheiterte in Österreich

In den USA seien der Nationale Sicherheitsrat und die Steuerungsgremien, die darunter liegen, seit den 1960er-Jahren Teil der amerikanischen Verwaltungsstruktur. "Die Abläufe sind eingespielt. In Deutschland ist diese Struktur neu", so Gressel.

Der Bundessicherheitsrat sei zuletzt ein bürokratisches Gremium gewesen, in dem man Rüstungsexporte habe genehmigen lassen müssen, ohne eine vorausschauende Strategie für die Politik hinter diesen Exporten zu entwerfen.

"Neue Strukturen können eine Chance sein, aber sie können auch schnell in bürokratischen Kriegen untergehen", warnt Gressel. In Österreich sei der Nationale Sicherheitsrat beispielsweise in der Umsetzung gescheitert.

Bewusst vage beim US-Verhältnis

Bei der künftigen Zusammenarbeit mit den USA bleiben Union und SPD bewusst vage, meint Gressel. In dem Papier heißt es zwar: "Das transatlantische Bündnis und die enge Zusammenarbeit mit den USA bleiben für uns von zentraler Bedeutung", doch ebenso werde das "Weimarer Dreieck" mit Frankreich und Polen betont.

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Gressel sagt: "Es gibt noch immer unzählige Rüstungsprojekte, wo man auf die USA angewiesen ist, weil man die aus dem alten Budget noch finanziert hat." Ein Beispiel sei die Flugzeuglinie F-35.

"Bestenfalls eine Übergangslösung"

Gustav Gressel

Wenn die amerikanische Regierung hier ähnlich agiere, wie gegenüber der Ukraine und beispielsweise die Datensicherheit betroffen sei, sei das problematisch. "Dann muss Lockheed Martin klarmachen, dass die F-35 bestenfalls eine Übergangslösung für ein späteres europäisches Kampfflugzeug ist", so der Experte.

In Europa würden über 600 Maschinen betrieben, das sei bedeutende Verhandlungsmasse. "Lockheed Martin hat ein Interesse, diese Flieger möglichst lange zu betreiben und an der Wartung mitzuverdienen", erklärt der Experte.

Den "Großen Wurf" sieht Experte Gressel insgesamt nicht kommen. "Am Ende des Tages kommt es darauf an, was die Koalition in all den Unterverhandlungen auch wirklich beschließt und voranbringt".

Bei der Reform der Bundeswehr gebe es beispielsweise so viele Baustellen, die man in einem Koalitionspapier nur in sehr großer Höhe überfliegen könne. "Es kommt am Ende aber sehr auf die Details an", so Gressel.

Über den Gesprächspartner

  • Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik von Großmächten.