- Die umstrittene Anpassung des Infektionsschutzgesetzes hält auch der Münchner Virologe Oliver Keppler für den falschen Schritt.
- Das tatsächliche Infektionsgeschehen habe sich von der politischen Diskussion entkoppelt.
- Keppler befürchtet eine ungebremste Durchseuchung. Die hielt schon im Herbst 2020 Christian Drosten für falsch.
Der Münchner Virologe Oliver Keppler hält die bevorstehenden bundesweiten Corona-Lockerungen angesichts der rasant steigenden Infektionszahlen für falsch. "Nach meinem Eindruck haben wir derzeit eine Entkopplung zwischen der tatsächlichen Entwicklung des Infektionsgeschehens und der politischen Diskussion über Lockerungen und einen Freedom Day", sagte der Leiter der Virologie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität der Deutschen Presse-Agentur. "Eine ungebremste Durchseuchung - und so befürchte ich das derzeit - darf jetzt nicht Deutschlands Ziel werden."
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Ein Expertenkreis um Kepplers Fach-Kollegen
Oliver Keppler sieht das falsche Signal in Richtung der Bevölkerung
Nach Einschätzung Kepplers besteht die Gefahr, dass in der Bevölkerung sowohl das Bewusstsein für die Gefahren des Erregers als auch die Impfbereitschaft schwinden. "Wir haben nach wie vor täglich 200 bis 300 Corona-Tote. Bei annähernd neun von zehn ist COVID auch ursächlich für den Tod." In den USA seien mehr Menschen an einer Infektion mit Omikron als mit der Vorgängervariante Delta gestorben.
Der Wissenschaftler forderte eine kluge Balance "zwischen einer sinnvollen, vielschichtigen und den Risiken angemessenen Infektionsprävention, die vor allem auch die vulnerablen Menschen weiter schützt, und einer neuen Normalität."
Oliver Keppler warnt vor der Omikron-Untervariante
Die Omikron-Variante des Erregers habe zwei wichtige Unterformen, die ursprüngliche BA.1-Form und eine neue, BA.2 genannt. "Diese zweite Form ist noch ansteckender als BA.1 und sicher ein Grund, warum die Infektionszahlen in vielen Ländern derzeit wieder stark ansteigen. "In Kombination mit den geplanten weiteren Lockerungen wird das die Infektionszahlen bei uns stark befeuern. Es wird in diesem Sommer länger dauern, bis wir zu niedrigen Inzidenzen kommen, wenn überhaupt."
COVID-19 bedeute eine chronische Belastung für das Gesundheitswesen. "Dem gesamten medizinischen Personal müssen wir hierfür mehr Wertschätzung und auch Verständnis in der aktuellen Diskussion entgegenbringen. Masken in öffentlichen Innenräumen, sinnvolles Testen und eine Steigerung der Impfquote sind weiter dringend erforderlich", sagte Keppler.
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Der Long-COVID-Aspekt muss stärker betont werden
Der Aspekt Long COVID komme häufig zu kurz. "Im Mittel vieler Studien leiden fünf bis zehn Prozent der Infizierten über drei Monate hinaus, manche schon seit fast zwei Jahren, an diesem Beschwerdekomplex." Dazu zählten unter anderem starke Erschöpfung und fehlende Belastbarkeit, schlechte Konzentrationsfähigkeit, Kurzatmigkeit und chronische Kopfschmerzen.
Leider hätten die Lockerungsdiskussion und "teilweise auch die Verharmlosung der Omikron-Welle dazu geführt, dass sowohl die Erstimpfungen als auch die Boosterimpfungen kaum noch vorankommen." Diese seien von entscheidender Bedeutung für den Schutz vor schweren Erkrankungen. Als Wunschziel für den Herbst nannte Keppler eine Impfquote von über 90 Prozent.
Keppler kritisiert fehlende Verlässlichkeit der Corona-Schnelltests
Im Januar hatte Keppler die fehlende Verlässlichkeit der Coronatests kritisiert. "Wir haben derzeit auf dem deutschen Markt etwa 600 verschiedene Antigen-Schnelltests." Viele davon seien bisher "nicht von unabhängigen Stellen oder Wissenschaftlern geprüft" worden, sagte er der ARD für die Sendung "Bericht aus Berlin" am Sonntagabend. Grundsätzlich gebe es große qualitative Unterschiede, "insofern ist die Aussagekraft der Selbst- und Schnelltests doch sehr eingeschränkt".
Auch Keppler verlangte mehr Aufklärung und Transparenz zur Qualität von Schnelltests. "Wenn ein Mensch sich testet und ein negatives Ergebnis hat, geht er, denke ich, zurecht davon aus, dass ein in Deutschland verfügbarer Test auch ein vernünftiges Ergebnis liefert, auf das ich mich dann weitgehend verlassen kann", sagte er. "Und das ist nicht gegeben." (dpa/AFP/hau)
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