- Nach der Pannen-Wahl in Berlin im vergangenen September stehen die Zeichen auf Wahlwiederholung.
- Gleichzeitig fanden die Bundestagswahlen statt. Was bedeutet es, wenn diese auch wiederholt werden müssen?
- Ein Experte sieht dramatische Folgen vor allem für eine Partei.
Der Verfassungsgerichtshof in Berlin hat gesprochen: Nach einer vorläufigen Einschätzung hält er eine komplette Wiederholung der Pannen-Wahl zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksparlamenten für erforderlich. Bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahlen im vergangenen September hatte es eine Reihe an Wahlfehlern gegeben. Dazu zählten zum Beispiel fehlende Stimmzettel, stundenlange Warteschlangen und zeitweilig geschlossene Wahllokale.
Der Verfassungsgerichtshof hält die Fehler für so gravierend, dass sie Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments und die Verteilung der Mandate gehabt haben könnten, also mandatsrelevant waren. Nur eine vollständige Wiederholung könne nach einer ersten Einschätzung einen verfassungskonformen Zustand herbeiführen. Nach der Verhandlung, die am Mittwoch (28. September) stattfand, hat das oberste Berliner Gericht drei Monate Zeit für ein Urteil. Ab einer Gerichtsentscheidung hat der Landeswahlleiter 90 Tage Zeit für eine Wiederholungswahl.
Wahllokale hatten stundenlang geschlossen
Von insgesamt 2.256 Wahllokalen waren nach Aussage des Gerichts noch 1.066 nach 18 Uhr geöffnet, insgesamt 350 Stunden. Gleichzeitig blieben Wahllokale wegen fehlender Stimmzettel insgesamt über 83 Stunden geschlossen. Die Wahlfehler sollen 78 Wahlkreise betreffen. Dort konnten laut Gericht tausende Wähler ihre Stimme gar nicht, nicht wirksam, nicht unbeeinflusst oder nicht unter zumutbaren Bedingungen abgeben.
Das Berliner Gericht verhandelt zunächst über vier von insgesamt 35 Einsprüchen gegen die Wertung der Wahlen. Parallel zu den Landeswahlen, zu denen auch ein Volksentscheid zur Wohnungspolitik zählte, fand am 26. September 2021 die Bundestagswahl statt. Auch gegen das Ergebnis der Bundestagswahl gab es in Berlin zahlreiche Einsprüche.
Auswirkungen auf die Bundestagswahl
Zuständig für deren Prüfung ist aber der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags. Er erarbeitet eine Beschlussempfehlung, die dem Bundestag zur Abstimmung vorgelegt wird. Wie zuletzt bekannt wurde, unterbreiteten Ampel-Vertreter im Wahlprüfungsausschuss nun den Vorschlag, die Abstimmung in rund 300 der knapp 2.300 Wahllokale wiederholen zu lassen.
"Dabei beschränken wir uns auf die Zweitstimmen", hatte der SPD-Abgeordnete Johannes Fechner, der dem Bundestagsausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung angehört, am Dienstag der Nachrichtenagentur "AFP" gesagt. In den 300 betroffenen Stimmbezirken konnte noch nach 18:45 Uhr gewählt werden, obwohl Wahllokale in Deutschland um 18 Uhr schließen.
Eigentlich wollte der Ausschuss schon einen Beschluss fassen, hat die Entscheidung aber in Hinblick auf das gerichtliche Verfahren in Berlin vertagt. Möglicherweise hatte es seinen Vorschlag an das, was das Landesverfassungsgericht sagt, noch anpassen wollen, schätzt Verfassungsrechtler Christian Pestalozza. Die Regierung hatte bereits im Sommer angekündigt, bei ihrer Entscheidung die Einschätzung des Berliner Verfassungsgerichts zu berücksichtigen.
Opposition will komplette Wiederholung
Der Vorschlag zur Wiederholung der Bundestagswahl in 300 Stimmbezirken wurde nun der Vorsitzenden Daniela Ludwig (CSU) vorgelegt. Der Ausschuss soll darüber noch im Oktober abstimmen. Die Ampel-Parteien kommen im Wahlprüfungsausschuss auf eine Mehrheit, sodass der Vorschlag angenommen werden dürfte. Eine komplette Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin scheint damit unwahrscheinlich.
Im Anschluss stimmt der Bundestag ab, dann wäre der Weg frei für eine teilweise Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin. Allerdings könnte gegen den Bundestagsbeschluss auch noch Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht werden.
Aus der Opposition kommen derweil kritische Stimmen zum Ampel-Vorschlag. Ludwig (CSU) sagte den Zeitungen der Mediengruppe Bayern: "Wir als Union tendieren dazu, die gesamte Bundestagswahl in Berlin wiederholen zu lassen". Auch der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, betonte in der Nachrichtensendung "ZDFheute", dass man den Ampel-Vorschlang "nicht mittragen und dagegen stimmen" werde.
Wahlfehler waren wohl mandatsrelevant
"Die politischen Auswirkungen hängen davon ab, in welchem Umfang und in welchen Bereichen die Bundestagswahl wiederholt wird", sagt Experte Pestalozza. Irgendeine Art der Wiederholung werde es in jedem Fall geben – in welchem Umfang, und ob man sich noch an die Berliner Situation anpasse, sei aber noch offen.
"Eine Wahlwiederholung wird nur angeordnet, wenn die Fehler, die man festgestellt hat, auch Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments haben können. Das bedeutet: Wenn es in einem Wahlkreis eng ausgegangen ist für Bundestagsabgeordnete, kann die neuerliche Entscheidung andersherum ausfallen", zeigt der Experte auf.
Experte: "Wiederholung könnte für Linke dramatisch werden"
Für die Fraktion der Linken könnte die Wiederholung dramatisch werden: "Sie hat zwei von drei Direktmandaten in Berlin gewonnen und ist nur deshalb in den Bundestag eingezogen", erinnert Pestalozza. Die Linkspartei hatte die Fünf-Prozent-Hürde bei der Wahl im September 2021 nicht genommen. 4,9 Prozent der Wählerstimmen reichten nur, weil die Linkspartei insgesamt drei Wahlkreise direkt gewann. Drei Direktmandate heben die Fünf-Prozent-Hürde quasi auf.
In Berlin Treptow-Köpenick fuhr Linkspolitiker Gregor Gysi 35,4 Prozent der Wählerstimmen ein. Er landete damit vor der SPD (15,4 Prozent) und CDU (13,5 Prozent). In Berlin-Lichtenberg kam die Linken-Kandidatin Gesine Lötzsch auf 25,8 Prozent der Stimmen. Die SPD lag bei 19,6 Prozent, die Grünen bei 13,6 Prozent.
"Sollten diese Bereiche betroffen sein und der Wahlausgang sich verändern, verschwindet die Linksfraktion aus dem Bundestag", macht Pestalozza deutlich. Die Repräsentanz der Partei und einzelner Abgeordnete sei unmittelbar betroffen.
Neue Rahmenbedingungen über ein Jahr später
"Jede Wiederholungswahl ist nicht optimal. Der spätere Wähler hat ein anderes Bild, er ändert vielleicht auch seine Stimme", sagt der Experte. Das sei allerdings nicht zu ändern, es liege in der Natur einer Wiederholungswahl. "Man kann seine Stimme dabei gezielter einsetzen, sich dem Erfolg aber auch nicht sicher sein", meint Pestalozza.
Unklar ist, inwiefern sich die jetzigen Berliner Koalitionspartner SPD, Grüne und Linke gegeneinander positionieren werden. Gemeinsames Interesse dürfte es sein, weiterzuregieren. Besonders der Ukraine-Krieg hat die Rahmenbedingungen aber völlig verändert.
Die Linkspartei hatte zuletzt für Wirbel gesorgt, nachdem Politikerin Sahra Wagenknecht in einer Rede scharf gegen die Bundesregierung ausgeteilt hatte und ihr vorwarf, einen "Wirtschaftskrieg" vom Zaun zu brechen. Zahlreiche Parteiaustritte folgten, darunter auch von bekannten Persönlichkeiten wie Fabio de Masi und dem Chef des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider.
Zeitliche Koordination wirft Fragen auf
Neben dem Bestand der Linken im Bundestag ist Weiteres ungeklärt. "Die zeitliche Koordination wird noch Fragen aufwerfen", meint Pestalozza. In Berlin gebe es ein einstufiges Verfahren und nach der Entscheidung des Gerichts müsse die Wahl binnen 90 Tagen wiederholt werden.
"Im Bundestag gibt es aber ein zweistufiges Verfahren. Das Parlament entscheidet und binnen zwei Monaten kann Wahlprüfungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht eingelegt werden", merkt Pestalozza an. Wenn das passiere, könnten die Landeswahl und die Bundestagswahl nicht an einem Termin wiederholt werden. "Es fragt sich also nicht nur, in welchen Wahllokalen was wiederholt werden muss, sondern auch, ob es am selben Tag stattfinden kann", so Pestalozza. Das verursache weitere Kosten und mitunter organisatorische Probleme.
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