Die größten Gewinner der Bundestagswahl 2017 sind die Kleinen. Der Erfolg stützt sich vor allem auf einen gesellschaftlichen Trend. Die AfD beherrscht den Kampf um die Aufmerksamkeit - und kann sich zurücklehnen, während andere ihre Arbeit erledigen.

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Gleich vier "Kleine" im Bundestag, nur 53,8 Prozent für die beiden "Großen" Union und SPD - am Wahlsonntag strahlten vor allem die Oppositionsparteien.

Allen voran natürlich die AfD, die sich im zweiten Anlauf mit 13 Prozent gleich zu drittstärksten Kraft im Parlament aufschwingt.

Das sind die wichtigsten Lehren aus der Volkspartei-Dämmerung.

1. Lehre: Aufmerksamkeit ist alles

"Krawall ist für uns keine Kategorie", sagte der AfD-Parteichef Jörg Meuthen am Wahlabend und kündigte damit eine "konstruktive Oppositionsarbeit" an.

Zumindest im Wahlkampf hatte seine Partei noch ein eher taktisches Verhältnis zum Krawall.

"Sie haben es geschafft, durch gezielte Provokationen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken", sagt der Populismus-Experte Benjamin Krämer von der Universität München im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die Muster immer dieselben: Skandal provozieren, Schlagzeilen generieren, zurückrudern. "Und ziemlich viele haben das Spiel mitgespielt."

Die Medien, die anderen Parteien - über mangelnde Aufmerksamkeit konnte sich die AfD jedenfalls nicht beschweren.

Christian Lindner hat dieses Rezept für die FDP etwas dosierter eingesetzt, aber doch: Mit seinen Einlassungen zu Putins Krim-Politik und zur Migration hat er sich den Populismus-Vorwurf eingehandelt - und gleichzeitig mehr Schlagzeilen gemacht als mit allen Vorschlägen zu Bildung und Digitalisierung.

2. Lehre: Stimmung geht über Inhalte

Die Nachwahlbefragungen zeigen sehr eindeutig, dass AfD-Wähler zumindest noch nicht hauptsächlich aus traditioneller Bindung zur Partei wählen, sondern aus Frust und Enttäuschung über die anderen Parteien vor allem der großen Koalition.

"Sie haben die Leute eingesammelt, die der kulturelle Wandel Richtung Vielfalt verärgert, die den Eindruck haben: Wir spielen ja gar keine Rolle mehr", erklärt Populismus-Experte Benjamin Krämer den Ansatz der AfD.

Dass sich dieser Frust vor allem beim Thema Zuwanderung kanalisiert, kam der AfD zusätzlich zugute. "Das Flüchtlingsthema war eine Steilvorlage, die sie versenkt haben."

Zumal die anderen Parteien den Fehler gemacht hätten, das Feld mit einer Ausrichtung zu diskutieren (der Fachbegriff dazu lautet "Framing"), die die AfD längst eingeschlagen hatte, nämlich mit einer Betonung der Gefahren wie Kriminalität, Islamismus und Terror.

"Sie mussten gar nicht viel leisten, das war schon in ihrem Sinne geframed", sagt Krämer.

Stattdessen hätte man auch über die richtige Integration, Ausbildung und ganz generell die Chancen der Zuwanderung reden können.

3. Lehre: Die Milieus sind nicht tot - nur kleiner

Das Ende der Volksparteien wird seit Mitte der 2000er immer wieder ausgerufen, der Absturz von SPD und Union bestätigt diesen Befund erneut.

Der Politikwissenschaftler Peter Lösche führte den Trend in einem Aufsatz 2009 auf die zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft zurück. "Niemand weiß, ob es beim Fünfparteiensystem bleibt", schrieb er damals.

Nun hat Deutschland ein Sechsparteiensystem mit vier kleinen Parteien, die mühelos die Fünfprozent-Hürde genommen haben.

"Die Gesellschaft differenziert sich immer weiter aus, alles findet seine Nische", sagt Benjamin Krämer von der Ludwig-Maximilians-Universität.

Allerdings habe die Ausdifferenzierung Grenzen. "Erstens, weil Themen kommen und gehen. Und zweitens, weil die Gesellschaft nur eine gewisse Anzahl Konfliktlinien verarbeiten kann."

Bester Beleg für seine These: die Piraten, die schnell in der Versenkung verschwanden, als das Thema Digitales Leben an Relevanz verlor und sich die Partei an den klassischen Konflikten zwischen linken und rechten Kräften aufspaltete.

Ob die AfD das Schicksal der Piraten teilen könnte, lässt sich laut Krämer noch nicht sagen. "Die AfD bettet sich darauf, dass sie mit der Migration ein Megathema gefunden hat wie die Grünen mit der Umwelt."

Auch die Linke als Kämpfer gegen die Agenda 2010 und die marktliberale FDP haben ihre Megathemen gepachtet - und eine Kernklientel entwickelt.

Peter Lösche hat in seinem oben zitierten Aufsatz geschrieben, die Kleinparteien würden keine Milieus entwickeln, die eine Grundlage für eine alternative Lebensweise bieten könnten, die eine Bindekraft herstellen könnten zwischen Wählern und Parteien.

Benjamin Krämer ist sich da nicht so sicher. "Vielleicht sind die politischen Milieus nicht so tot wie gedacht", sagt er. "Auch jenseits der AfD findet eine Re-Politisierung statt. Und im Bereich des Rechtspopulismus verschmilzt die politische Haltung mit einem Lebensgefühl, da können sich dann Identitäten herausbilden."

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