Deutschland wird immer älter - und damit haben die Senioren bei den Wahlen auf den ersten Blick die größte Macht. Was das für die Politik bedeutet, erklärt Demokratieforscher Aiko Wagner. Ein Problem sieht er eher darin, dass eine bestimmte Wählerschicht den Wahllokalen fernbleibt.
Doktor Wagner, sagt Ihnen der Name Michael Schulz etwas?
Doktor Aiko Wagner: Nein, der sagt mir nichts.
Das ist der Spitzenkandidat von "Die Grauen", einer Partei, die in der Tradition der Rentnerpartei "Grauen Panther" steht - so eine Partei müsste doch eigentlich bei der Bundestagswahl allerbeste Chancen haben?
Die Grauen Panther sind mittlerweile fast überflüssig - alle Parteien werden von älteren Semestern dominiert. Das war früher nicht komplett anders, aber die Altersstruktur verschiebt sich immer weiter.
Manchmal wird das durchbrochen, etwa durch den Neueintrittshype bei der SPD Anfang des Jahres, aber im Großen und Ganzen bestimmen in den Parteien die Alten.
Bei den Wahlberechtigten sieht es ja ähnlich aus, gut jeder dritte Wahlberechtigte ist über 60. Wird Deutschland zu einer Rentnerdemokratie?
Die Alten stellen das größte Elektorat - und sie gehen fleißig wählen. Gerade die 60- bis 70-Jährigen weisen die höchsten Wahlbeteiligungsquoten auf, insofern bestimmen sie die Politik ein gewichtiges Stück mit. Auf der anderen Seite sind sie aber nicht besonders attraktiv für die Parteien.
Warum nicht?
Sie sind größtenteils festgelegt. Die Parteien können sich ein Stück weit darauf verlassen, dass ein Wähler nach zehn, zwölf Wahlen nicht plötzlich eine andere Partei wählt.
Die Wahrscheinlichkeit ist bei den 30-Jährigen höher, die sind elektoral verfügbar, und deswegen viel spannender.
Der streitbare Ökonom Hans-Werner Sinn hat immer wieder gewarnt, dass die Babyboomer, also die heute 50- bis 65-Jährigen, ihre politische Macht einsetzen könnten. Ist das eine reale Gefahr?
Ganz generell ist es sicher nur folgerichtig, wenn die Parteien als rationale Akteure die großen Wählerschaften ansprechen wollen. Das sind eben nicht gering gebildete 18-Jährige, sondern die über 50-Jährigen.
Aber: Man darf sich die Wählerschaft nicht nur als egoistisch vorstellen. Viele Rentner haben Kinder und Enkelkinder, insofern sind Themen wie Bildungspolitik oder Kindergeld auch für diese Leute interessant. Die schauen nicht nur auf ihren Geldbeutel.
Sie haben gesagt, dass Ältere fleißig wählen gehen. Warum ist das so?
Da gibt es verschiedene Erklärungen, die zusammenwirken. Die Wahlnorm ist stärker verankert, dieses Gefühl einer Bürgerpflicht.
Den zweiten Grund nennt die Forschung Parteiidentifikation, das ist so ein bisschen wie Fan eines Fußballvereins zu sein. Das finden wir bei Älteren häufiger, genau wie ein höheres politisches Interesse. Und beides führt zu höherer Wahlbeteiligung.
Und was macht die Jungen so wahlfaul?
Da greift eine vierte Erklärung: der Lebensverlauf. Leute um die 20 oder 30 haben viel um die Ohren, da spielt Politik nicht die wichtigste Rolle.
Man muss einen Beruf finden, bewegt sich sozial und regional, knüpft Freundschaften, geht Partnerschaften ein - da fällt die Politik schon mal hinten runter. Mit 60 kehrt ja schon mehr Ruhe ein.
Von diesen Alterserscheinungen muss man aber noch Kohorteneffekte unterscheiden.
Also die jeweiligen Lebensumstände der einzelnen Generationen?
Die Generation der Babyboomer wurde in den politisch bewegten 60er Jahren sozialisiert. Wenn ich als Zwanzigjähriger Wähler war, bleibe ich das.
Um das Ganze noch komplizierter zu machen, gibt es übrigens auch noch Periodeneffekte, also dramatische Ereignisse, wichtige Entscheidungen oder enge Duelle.
Es sieht ja gegenwärtig nicht so aus, als wenn Martin Schulz die 15 Prozentpunkte Rückstand noch aufholt. Das treibt die Leute nicht gerade in die Wahllokale.
Inwieweit trägt sich die Wahlbeteiligung über die Generationen fort? Werden aus den wahlfaulen Jungen von heute quasi automatisch pflichtbewusste Staatsbürger?
Nein. Wer als Erst- oder Jungwähler nicht mobilisiert wird, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, zum dauerhaften Nichtwähler zu werden.
Wir haben schon immer gesehen, dass die Jungen weniger häufig wählen gehen, auch in den 50er Jahren schon. Aber die Schere geht weiter auseinander und die Älteren sterben weg.
Wenn wir Kohorten von Nichtwählern heranziehen, bekommen wir auf Dauer eine sinkende Wahlbeteiligung.
Neben dem Alter gibt es noch einen anderen Faktor für die Frage, wer wählen gibt: den sozialen Status, also Herkunft, Bildung, Einkommen. Menschen aus der Unterschicht bleiben den Wahlen eher fern als die Mittel- und Oberschicht. Kann es sein, dass sie deswegen im Bundestag unterrepräsentiert sind?
Das steht zu befürchten. Das empirisch nachzuweisen, ist gar nicht so einfach, wir finden widersprüchliche Befunde.
Aber es gibt ein Gesetz der Partizipation, nicht nur in Deutschland: Je geringer die Partizipation, desto sozial ungleicher ist sie und desto weniger gehen Unterschichten wählen.
Wenn Parteien rationale Akteure sind, besteht die Gefahr, dass sie sagen: Um die muss ich mich nicht kümmern, die können mich ja nicht abstrafen.
Generell ist es bemerkenswert, dass Menschen aus den unteren Schichten nicht wählen gehen. Sie tun das ja sicher nicht aus Zufriedenheit, das wäre unplausibel.
Das verweist auf andere Mechanismen, die über die Inklusion dieser Menschen in die Gesellschaft funktionieren. Wir haben da ein Problem.
Also bestimmen vor allem die gut situierten Älteren Wahlen.
Numerisch gesehen schon. Das sind die meisten und die, die eher wählen gehen. Insofern entscheidet die nicht ganz junge, besser gebildete, finanziell gut ausgestattete Mittel- und Oberschicht.
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