Flüchtlinge, soziale Gerechtigkeit oder doch die Bildung? Das eine entscheidende Wahlthema gibt es in diesem Jahr nicht, sind sich Experten einig. Das liegt nicht nur am Versagen der SPD, sondern auch an einer bewährten Strategie der Kanzlerin.
Wenn man den Zahlen glaubt, entscheidet sich die Bundestagswahl 2017 in der Bildungspolitik. In einer Umfrage von infratest dimap haben kürzlich 64 Prozent der Befragten angegeben, dieses Thema sei für sie sehr wichtig, es ist der höchste Wert – noch vor Terrorismus, Kriminalität und Rente.
Welche Themen entscheiden die Wahl?
Nur sollte man den Zahlen nicht unbedingt glauben: Zum Einen haben die Antworten auf Umfragen manchmal herzlich wenig mit dem tatsächlichen Handeln zu tun, Stichwort soziale Erwünschtheit - die Menschen geben etwas an, von dem sie meinen, dass es Sozialprestige verspricht oder es andere gern hören würden.
Zum Anderen liegen die Werte der meistgenannten Themen recht dicht beieinander. Ob nun also wirklich die Ganztagsbetreuung oder doch die Sorge um Wohnungseinbrüche den Ausschlag in der Wahlkabine gibt, eine eindeutige Antwort findet man in Umfragen nicht.
Und auch nicht, wenn man Experten zu Rate zieht. "Man kann nicht sagen, dass ein Thema wahlentscheidend ist“, sagt der Politikwissenschaftler Kamil Marcinkiewicz von der Universität Hamburg im Gespräch mit diesem Portal. Er führt das auf die gesellschaftliche Entwicklung zurück: "Die Wählerschaft wird immer fragmentierter, da zählen unterschiedliche Themen."
Angela Merkel hat alle Themen neutralisiert
Seit 2002 verlieren die großen Volksparteien mehr (SPD) oder weniger (Union) an Stimmen, die Wähler verteilen sich auf die kleineren Parteien mit ihren zielgruppengenauen Profilen. Ein Grund, warum es nicht das eine vorherrschende Überthema gibt in diesem Wahlkampf.
Die anderen Gründe liegen bei den Parteien selbst, vor allem bei der Union und Kanzlerin
Hat die SPD versagt?
Dieser Vorwurf muss natürlich in allererster Linie an Herausforderer Martin Schulz und seine SPD gehen, die Merkel auf dem Feld der Sozialen Gerechtigkeit schlagen wollten.
Kein Fehler, meint Kamil Marcinkiewicz. Nur seien die Bedingungen für die Sozialdemokraten schwieriger geworden. "Die Zahl der Arbeiter schwindet, viele werden von Rechtspopulisten angezogen. In der Mitte kann die SPD die Verluste nicht wettmachen, da herrscht große Konkurrenz. Und von links kann die Linkspartei radikaler und überzeugender diese Politik vertreten als eine SPD, die vier Jahre in der Regierung war und eine Partei der Mitte ist."
Die AfD habe es zwar geschafft, mit dem Thema Flüchtlinge und Migration zu punkten, sagt Nils Diederich. "Aber trotzdem schätzt eine stabile Mehrheit dieses Thema nicht so ein, dass es der Union wirklich schaden könnte."
Sein Kollege Gero Neugebauer, ebenfalls an der FU Berlin, kritisiert die Sozialdemokraten für ihre Unfähigkeit, ein Gewinner-Thema zu identifizieren und zu forcieren. "Offensichtlich hat keine Diskussion stattgefunden, was die wirklichen Probleme sind. Auch die Zukunftsthemen EU und Digitalisierung wurden nicht debattiert."
Erfolgsrezept asymmetrische Demobilisierung
Für die Union eine bequeme Entwicklung, bedient sie sich doch wie 2013 der "asymmetrischen Demobilisierung". Gero Neugebauer beschreibt die wichtigste Grundregel dieser Strategie so: "Kein Thema aufgreifen, das der Gegenseite zur Mobilisierung taugen könnte."
Ein Eindruck, den auch Kamil Marcinkiewicz gewonnen hat: "Es war nicht das Ziel der CDU, über konkrete Themen zu reden. Der Wahlkampf fand eher auf einer Metaebene statt, es ging um das Gefühl von Stabilität."
Wie das konkret aussieht, konnte man bei den Fernsehauftritten der Kanzlerin beobachten. Selbst wenn sie hart angegangen wurde, gab sie die Kümmerin, fragte nach Adressen, versprach Besuche vor Ort.
Nils Diederich sieht darin ein Grundmuster dieses Wahlkampfs: "Die Debatten im Fernsehen gingen sehr schnell in Details über. Siehe die Diskussion über die Situation der Pflegekräfte, so etwas reißt nur ganz kleine Gruppen mit."
Wovon hängt die Wahlentscheidung ab?
Ein großes, bestimmendes Thema konnte sich so im Wahlkampf nicht herauskristallisieren. Vielleicht könnte das Kreuz auf dem Wahlzettel aber auch an viel einfacheren Faktoren hängen: Bei der Landtagswahl im Saarland etwa konnte die SPD trotz einem Schulz-Zug in Höchstgeschwindigkeit nicht gewinnen.
Die Regierung profitierte offensichtlich von der guten Stimmung im Land, 85 Prozent der Wähler gaben an, es gehe ihnen persönlich gut. Ähnlich sah es in einer deutschlandweiten Umfragen des Pew Research Center vom Sommer aus. Ein Vorteil für die Kanzlerin. Denn, so der Hamburger Politikwissenschaftler Kamil Marcinkiewicz, die entscheidende Frage für Sonntag laute: "Wollen die Wähler Stabilität oder radikale Änderungen?"
Und wenn die Union im Wahlkampf eins wirklich versprochen hat, dann ein "Weiter so".
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