Hohe Energiepreise belasten Wirtschaft und Verbraucher gleichermaßen. Einige wünschen sich deshalb die Kernkraft zurück. Ist das eine gute Idee? Fragen an den Energieexperten Bruno Burger.
Die letzten drei Atomkraftwerke Deutschlands wurden vor knapp zwei Jahren abgeschaltet. Nicht erst seitdem sehnen sich manche Politiker und Bürger nach einer Renaissance der Kernkraft. Besonders die Wirtschaft leidet unter hohen Energiepreisen und hofft deshalb auf schnelle Hilfe aus Berlin.
Einige Parteien schließen in ihren Programmen zur Bundestagswahl eine Rückkehr zur Atomkraft nicht aus. Aber ist das so einfach? Und die noch drängendere Frage: Ist es überhaupt sinnvoll, zurück ins Atomzeitalter zu gehen? Warum die Atomkraft kaum einen Anteil am Strompreis hat und warum der Import von französischem Atomstrom ganz natürlich ist, erklärt der Energieexperte vom Fraunhofer Institut aus Freiburg, Bruno Burger, im Gespräch mit unserer Redaktion.
Im April 2023 wurden die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet. Hätte es eine Möglichkeit gegeben, sie noch länger laufen zu lassen?
Bruno Burger: Hätte man die Kraftwerke reibungslos weiterlaufen lassen wollen, hätte man sich dazu schon 2018 oder 2019 entscheiden müssen. Danach wurden Verträge für den Rückbau abgeschlossen, mit dem Personal wurden teilweise Reglungen zum Vorruhestand vereinbart und es wurden keine neuen Brennelemente mehr bestellt. Ein Weiterbetrieb wäre nur mit sehr hohen Risiken für Verzögerungen und sehr hohen zusätzlichen Kosten denkbar gewesen.
Das heißt, auf den Ausbruch des Ukrainekriegs 2022 hätte man gar nicht akut reagieren können?
Anfang 2022 war der Stand, dass es keine neuen Brennelemente gab. Später meldete sich die Firma Westinghouse und bot neue Brennstäbe an, die aber rund ein Jahr zur Herstellung benötigt hätten. Die Betreiber der Kernkraftwerke hatten zu dem Zeitpunkt aber schon erklärt, dass sie die Kernkraftwerke nicht weiterbetreiben wollen. Und es gab ein weiteres Problem.
Welches?
Atomkraftwerke müssen alle zehn Jahre einer großen Revision unterzogen werden. Im Zeitraum eines Jahres werden sie dann auf den neusten Stand der Technik gebracht. Die letzte große Revision fand 2009 statt. 2019 hatte man sich gespart, weil man wusste, dass die Kraftwerke 2022 abgeschaltet würden. Gemäß dem Szenario der EnBW hätten die Kernkraftwerke im vierten Quartal 2023 wieder ans Netz gehen können, wenn die Brennelemente im ersten Quartal 2022 bestellt worden wären und die große Revision auch 2022 begonnen worden wäre.
"Eine rein aus Erneuerbaren und Kernkraft bestehende Stromversorgung ist weder technisch noch wirtschaftlich sinnvoll."
2024 lag der Anteil der erneuerbaren Energien bereits bei knapp 60 Prozent. Hätten wir die Kernkraftwerke dann noch gebraucht?
Erneuerbare Energien unterliegen natürlichen Schwankungen, und der Stromverbrauch variiert mit Tageszeit und Wochentag. Um diese auszugleichen, sind flexibel regelbare Kraftwerke erforderlich – in der Regel Gaskraftwerke. Eine rein aus Erneuerbaren und Kernkraft bestehende Stromversorgung ist weder technisch noch wirtschaftlich sinnvoll. Kernkraftwerke sind auf einen konstanten Betrieb mit Nennleistung ausgelegt; eine flexible Leistungsanpassung wäre technisch äußerst anspruchsvoll und wirtschaftlich unrentabel.
Nehmen wir ein Szenario an, in dem wir genug Brennstäbe gehabt hätten, das Personal nicht in den Ruhestand geschickt worden wäre und die Betreiber hätten weiter machen wollen. Hätte das an unserer Energiesituation 2023/24 irgendetwas geändert?
Die sechs Prozent, die die drei letzten Kernkraftwerke an unserem Strommix ausgemacht haben, waren nicht relevant. Auch am Strompreis hätte es nicht viel geändert, da wir einen gekoppelten europäischen Strommarkt haben. Der Preis orientiert sich über die Merit-Order an den teuersten gerade noch benötigten Kraftwerken, und das sind Gaskraftwerke.
Sie sagten bereits, dass die erneuerbaren Energien schwanken und es sogenannte Dunkelflauten gibt. Also Stunden oder Tage, in denen kaum die Sonne scheint und kein Wind weht. Teilweise schossen an diesen Tagen die Preise steil nach oben. Hätten hier Atomkraftwerke etwas geändert?
An diesen Tagen hätten die drei Kernkraftwerke den Preis tatsächlich leicht nach unten gedrückt und die Importe reduziert, aber es macht keinen Sinn, Kernkraftwerke für die wenigen Stunden der Dunkelflauten vorzuhalten. Aber über die wenigen Tage mit Dunkelflaute wird in den Medien ausgiebig berichtet. Andererseits hatten wir durch die erneuerbaren Energien auch rund 460 Stunden im vergangenen Jahr, in denen der Strompreis bei null oder negativ war. Darüber wird nur wenig berichtet. Um sich gegen Preisschwankungen abzusichern, können Industriebetriebe den Strom zu einem festen Preis teilweise weit im Voraus kaufen und sich damit wirkungsvoll gegenüber kurzfristige Schwankungen absichern.
"Kernenergie-Befürworter sind entweder Populisten oder sie verfolgen wirtschaftliche Interessen."
Kommen wir nochmal zurück ins Jahr 2023. Kurze Zeit nach dem Abschalten der Kernkraftwerke haben sich beispielsweise Friedrich Merz und Markus Söder vor dem bayerischen Meiler Isar 2 gestellt und behauptet, die Kraftwerke seien aus ideologischen Gründen abgeschaltet worden. Wäre es dann nicht auch ideologisch, sie jetzt weiter laufen lassen zu wollen?
Nach Fukushima hatte die Merkel-Regierung mit der FDP und mit den fünf Ministerpräsidenten der Bundesländer, die Kernkraftwerke hatten, den Atomausstieg beschlossen. Von 2011 bis 2021 wurden 14 Kernkraftwerksblöcke unter Regierungen der CDU abgeschaltet. Zur Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke gab es einen Untersuchungsausschuss, der keine ideologischen Gründe nachweisen konnte. Der Kardinalfehler war allerdings, dass wir uns mit den Nord-Stream-Pipelines viel zu abhängig von russischem Gas gemacht haben, obwohl viele – unter anderem die USA – uns eindringlich davor gewarnt haben. Das war ein Vermächtnis von Schwarz-Rot. Vor Nord Stream waren wir viel breiter aufgestellt, was unsere Gaslieferanten anging.
Schaut man sich die Wahlprogramme an, wäre Kernkraft für die Union, die AfD und die FDP wieder eine Option. Auf welcher Grundlage kommen diese Parteien zu dieser Einschätzung?
Kernenergie-Befürworter sind entweder Populisten oder sie verfolgen wirtschaftliche Interessen. Beispielsweise ist die fossile Industrie für den Bau neuer Kernkraftwerke, denn bis neue Atomkraftwerke gebaut werden, dauert es zehn bis 20 Jahre. In dieser Zeit müsste weiterhin Gas und Kohle verbrannt werden. Auch die Union fordert nicht den Bau der aktuell verfügbaren Kernkraftwerksgeneration (EPR), sondern den Bau von Kraftwerken der vierten und fünften Generation, die auf absehbare Zeit noch nicht verfügbar sein werden.
Dauert es tatsächlich so lange, ein neues Atomkraftwerk zu bauen?
Schauen Sie sich in Europa um. Das finnische Kernkraftwerk Olkiluoto 3 verschlang knapp 18 Jahre Bauzeit – vom Spatenstich bis zur Fertigstellung. An Flamanville 3 in Frankreich wurde 17 Jahre gebaut. Und hier ist die Planungszeit noch gar nicht mit eingerechnet.
Bleiben wir in Frankreich. Eine häufige Kritik lautet: Wir schalten die Atomkraftwerke ab und beziehen gleichzeitig Atomstrom aus Frankreich. Was ist da dran?
Wir haben 2022 sehr viel Strom nach Frankreich geliefert, weil dort viele Atomkraftwerke ausgefallen sind. Dadurch haben auf dem europäischen Strommarkt rund 80 Terawattstunden Strom gefehlt.
Und anders herum?
Aktuell beziehen wir Strom aus Frankreich. Das liegt an den hohen Gas- und CO2-Preisen, die unseren Strom teuer machen. Deutschland oder andere Marktteilnehmer haben keinerlei Einfluss darauf, welcher Energieträger exportiert oder importiert wird – dies widerspricht sogar dem Grundprinzip des europäischen Strommarkts. Auch bei einem ausgeglichenen Handelssaldo lässt es sich nicht verhindern, Kernenergie zu importieren. Vom grenzüberschreitenden Stromhandel profitieren alle Beteiligten, da Strom immer dort produziert wird, wo aktuell die geringsten volkswirtschaftlichen Kosten anfallen.
Also ist ein normaler Vorgang, dass wir Strom exportieren und importieren?
Genau, wir haben einen gekoppelten europäischen Strommarkt. Welche Kraftwerke zu welcher Stunde Strom erzeugen dürfen und welche Länder Strom exportieren oder importieren, entscheidet ein Computerprogramm anhand der Kauf- und Verkaufsgebote und der Leitungskapazitäten im europäischen Stromnetz. In den Wintermonaten ist der Stromverbrauch in Frankreich um 60 Prozent höher als im Sommer. Da verbraucht Frankreich den Strom selbst. Französischer Strom fließt hauptsächlich im Sommer zu uns, wenn der Stromverbrauch niedrig, das Angebot hoch und die Preise im Keller sind. Zu sagen, wir wären abhängig von französischem Atomstrom, ist also falsch.
"Da Frankreich und England schon Atombomben besitzen, kann damit nur eine deutsche Atombombe gemeint sein."
Die EU hatte 2022 dem Atomstrom praktisch ein Ökolabel verpasst. Was halten Sie von dieser Entscheidung?
Das ist auf Betreiben von Frankreich und Präsident Macron geschehen, der das mit Nachdruck gefordert hat. Denn seine Atomkraftflotte ist überaltert, und er will sechs neue Atomkraftwerke bis 2035 ans Netz bringen. Es ist aber fraglich, ob das in der geplanten Zeit und zu den geplanten Kosten wirklich gelingt. Deshalb will man jetzt in Frankreich europäische Fördergelder zur Dekarbonisierung der Energieversorgung auch für den Ausbau der Kernkraft nutzen.
Spielen in Frankreich die erneuerbaren Energien keine Rolle?
Frankreich baut, wie fast alle großen Industrienationen, seine Erneuerbaren massiv aus. Der französische Netzbetreiber RTE hat sechs Szenarien für die Stromerzeugung bis 2050 entwickelt. Selbst bei dem Atomstrom-freundlichsten Szenario sinkt dessen Anteil in den nächsten 25 Jahren von heute 70 Prozent auf 50 Prozent.
Im Wahlkampf hört man auch im Zusammenhang mit dem Energiesektor immer wieder das Wort "Technologieoffenheit". Da ist von SMR-Kraftwerken (Small Modular Reactor) oder von Kernfusion die Rede. Sind das tatsächliche Alternativen?
In den 1950er-Jahren haben wir mit kleineren Reaktoren mit 300 bis 400 Megawatt angefangen, dies entspricht der Leistung vieler aktuell geplanter SMRs. Diese waren aber teuer, und man nutzte Wachstumsgesetze, um mit größeren Reaktoren die Kosten zu senken. Heutige Reaktoren haben eine Leistung von bis zu 1600 Megawatt. Die sind aber inzwischen sehr teuer geworden. Deshalb versucht man, kleinere Reaktoren in Serie zu bauen und dadurch die Kosten gegenüber Einzelanfertigungen zu senken.
Wieviele neue Atomkraftwerke bräuchten wir denn?
Durch die Elektrifizierung der Sektoren Verkehr, Wärme und Industrie wird unser Stromverbrauch um das Zwei- bis Dreifache steigen. Das sind dann 1.000 bis 1.500 Terawattstunden pro Jahr. Ein modernes Atomkraftwerk produziert rund zehn Terawattstunden. Also bräuchten wir 100 bis 150 Atomkraftwerke – bei SMR wären es je nach Größe fünfmal bis 20-mal mehr.
Und die Kernfusion?
Dass Kernfusion einmal rentabel Strom liefert, halte ich für ausgeschlossen. Die Anforderungen an die benötigten Materialien sind extrem hoch, was die Technologie teuer macht. Aber wer heute von Kernkraft oder Kernfusion spricht, hat vielleicht auch andere Hintergedanken.
Die da wären?
Militärische Nutzung. Es gibt deutsche Politiker, die gerne eine europäische Atombombe hätten. Da Frankreich und England schon Atombomben besitzen, kann damit nur eine deutsche Atombombe gemeint sein.
Zum Gesprächspartner
- Prof. Dr.-Ing. Bruno Burger ist Senior Scientist im Bereich Power Electronics, Grids and Smart Systems am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE in Freiburg. Zudem ist er Honorarprofessor am Elektrotechnischen Institut des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Zusätzlich betreibt er mit Kollegen die Seite Energie-Charts, die einen Beitrag zur Transparenz und Versachlichung der Diskussion um die Energiewende leisten soll. Hier finden sich die Rohdaten von Wissenschaftlern des Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE aus zahlreichen Quellen, welche stündlich oder täglich abgerufen und für die Darstellung aufbereitet werden.