Christian Lindner kämpft als Spitzenkandidat der FDP für die Rückkehr seiner Partei in den Bundestag. Im Exklusiv-Interview mit unserer Redaktion erklärt er, warum die Liberalen im Bundestag benötigt werden, was an ihrem Programm mutig ist – und welche Bedingung es für eine Regierungsbeteiligung gibt.
Herr Lindner, wann war der Augenblick, als Sie dachten: Die FDP ist wieder da?
Christian Lindner: Unser Ziel bleibt die Rückkehr in den Bundestag. Das ist noch nicht erreicht. Ich dachte nach der Wahl in Hamburg 2015, dass das der Eisbrecher-Moment für die FDP ist.
Wir hatten davor das Jahr 2014 investiert, um uns selbst noch einmal klarzumachen, wer wir Freie Demokraten sind und wie wir in die Parlamente zurückkehren wollen.
Nämlich als Partei, die den Einzelnen starkmachen will, etwa durch Bildung, und die ihm etwas zutraut und die ihn schützt vor Abkassieren, Bevormunden, Bespitzeln und bürokratischen Fesseln.
In Hamburg war das erste Mal, dass wir damit vor die Wählerinnen und Wähler getreten sind und erfolgreich waren (die FDP erreichte bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg 7,4 Prozent, Anm.d.Red.). Da war mir klar: Es gibt einen Platz für uns.
Auch wieder im Bundestag?
Wir sind noch nicht wieder da. Aber es gibt die realistische Chance auf ein Comeback.
Die FDP steht für: Dinge in die Hand nehmen wollen, Weltoffenheit, Freude an der Schaffenskraft und Neugier auf neue Technologien. Das ist auch mein Lebensgefühl, aber es kann natürlich sein, dass das nur eine sehr kleine Gruppe teilt.
Woran hat man aus Ihrer Sicht in den letzten vier Jahren gemerkt, dass die FDP im Bundestag gefehlt hat?
Erstens: Es gibt eine 'Rachemaut' für Pkw gegen Österreich, aber der Glasfaserausbau für schnelles Netz wurde verschlafen.
Zweitens: Der Staat schwimmt im Geld, aber auf die Idee, dass man daran auch die Mitte der Gesellschaft teilhaben lässt, kommt ohne uns keiner.
Drittens, und aus meiner Sicht das wichtigste gesellschaftspolitische Thema, das aktuell kaum jemand anfasst: Bildung. Wir wollen uns endlich auf den Weg machen, die weltbeste Bildung in Deutschland für den Einzelnen zu erreichen.
Und last, but not least: Es gibt massive Eingriffe in unsere Freiheit durch Vorratsdatenspeicherung und den Staatstrojaner und anderes mehr. Das bringt aber nicht mehr Sicherheit, sondern Verunsicherung.
Dieses Misstrauen des Staats gegenüber seinen Bürgern stellt unser Staatsverständnis auf den Kopf.
Digitalisierung, Bildung, persönliche Freiheit - das sind ja die klassischen FDP-Themen. Warum soll 2017 funktionieren, was vor vier Jahren nicht einmal für fünf Prozent gereicht hat?
Weil die FDP in ihrer Prioritätensetzung und dem Stil den Ansprüchen an eine liberale Partei damals nicht gerecht geworden ist.
Das heißt?
Die Grundwerte, die die Menschen 2009 gewählt und gefühlt haben, waren 2013 ja nicht falsch. Die Menschen sind auch nicht ganz andere geworden in den vier Jahren, sondern sie haben sich da nicht mehr abgeholt gefühlt und wiedererkannt.
Wir haben aus der historischen Lektion der Wähler gelernt. Und es kommt noch etwas Zweites hinzu: Uns ist in dieser außerparlamentarischen Zeit klargeworden: Die FDP war ängstlich.
Das sind andere Parteien auch – es gibt sogar eine, die schürt die Angst ganz bewusst, um davon zu profitieren: die AfD. Die Linke im Übrigen auch, da ist es die Angst vor sozialem Abstieg.
Und dazu wollen Sie ein politisches Gegengewicht sein?
Linkspartei und AfD machen uns deutlich, wie wir nicht sein wollen. Vor allem die AfD: Abschottung, Angst, Volkskollektiv. Da setzen wir dagegen: Weltoffenheit, Mut und der Einzelne im Mittelpunkt.
Anstelle der 'German Angst' sagen wir: Anpacken und Machen. Die besten Tage unseres Landes liegen noch vor uns – wenn wir die Weichen richtig stellen.
Wird Deutschland aus Ihrer Sicht immer ängstlicher?
Unserer Gesellschaft geht es gerade extrem gut, da ist die Versuchung groß, das bewahren zu wollen. Das ist gefährlich. Denn in einer Welt im Wandel ist nichts gefährlicher als Kontinuität und Stillstand.
Wenn die Welt sich ändert, musst du dich in ihr ändern, damit du weiter stark bleibst, sozial sein kannst und zukunftsfest. Das machen wir zu unserem Programm.
Dann sprechen wir doch über Ihr Programm. Wo ist die FDP da besonders mutig?
Wir sind die Einzigen, die sagen: Lasst die Menschen doch endlich mal wieder machen!
Weg mit übertriebener, irrwitziger Bürokratie, Zeit für eine neue Balance zwischen Bürger und Staat.
Inwiefern ist das mutig?
Alle anderen Parteien rücken den Staat in das Zentrum ihrer Pläne. Wir stellen uns gegen diesen Mainstream.
Natürlich wissen wir, dass das bedeutet, dass politische Gegner versuchen, das umzudeuten. Die versuchen dich dann sofort zu brandmarken als eiskalten neoliberalen Minimalstaatsanhänger.
Noch einmal konkret nachgefragt: Welcher Punkt in Ihrem Programm ist besonders mutig? Die von Ihnen geforderten 30 Milliarden Euro Steuerentlastung für die Bürger?
Die finde ich nicht mutig, sondern ein Gebot der Fairness. Der Staat nimmt bis zum Jahr 2021 insgesamt 145 Milliarden mehr ein – pro Jahr.
Da ist eine Entlastung in Höhe von 30 bis 40 Milliarden Euro problemlos machbar. Selbst Herr Schäuble will ja sogar 15 Milliarden entlasten. Und der gönnt Ihnen keinen Cent.
Welche konkrete Forderung dann?
Wir wollen die restlichen Staatsanteile an Post und Telekom verkaufen. Das Geld nutzen wir dann, um in den Glasfaserausbau auch im ländlichen Raum zu investieren.
Mutig ist es außerdem zu sagen, dass der Bildungsföderalismus nicht Teil der Lösung, sondern ein Problem geworden ist.
Wir brauchen mehr Mobilität und mehr Finanzierungsmöglichkeiten für den Bund, weil Kommunen und Länder - wenn sie nicht Bayern heißen - nicht so gut ausgestattet sind.
Das Mutigste ist: Wir entscheiden uns nicht zwischen Taxi und Uber, zwischen Hotel und Airbnb, zwischen Apotheke und Versandapotheke.
Diese Entscheidung überlassen wir den Menschen, der Staat soll nur für einen fairen Wettbewerb zwischen diesen Angeboten sorgen und keine Seite bevorzugen.
Mit welcher anderen Partei geht das am ehesten? Oder anders gefragt: Wenn ich FDP wähle, mit welcher Koalition kann ich dann am Tag nach der Wahl aufwachen?
Wir gehen ohne Koalitionsaussage in die Wahl. Mit jeder etablierten Partei gibt es Überschneidungspunkte. Die FDP regiert ja von Nord nach Süd unterschiedlich.
In Kiel mit Jamaika, in Düsseldorf mit Schwarz-Gelb, in Mainz in einer Ampel und in Baden-Württemberg haben wir das Angebot von Herrn Kretschmann (Ministerpräsident in Baden-Württemberg, Anm.d.Red.), in die Regierung einzutreten, abgelehnt, weil wir unsere Inhalte nicht umsetzen konnten.
Aber klar ist natürlich auch: Wir sind eine kleinere Partei und werden nie alles umsetzen können. Dennoch treten wir nur in eine Regierung ein, wenn wir hinreichend viele Punkte umsetzen können, wenn wir das Land in die richtige Richtung mitbestimmen können.
Und: Zu keinem Zeitpunkt werden wir unsere roten Linien überschreiten.
Welche Linien sind das?
Wenn der einzelne Mensch kleingemacht werden soll – durch übermächtige Bürokratie, durch übermächtige Unternehmen wie Google und Apple, durch zu hohe Steuern oder wenn er von Bildungschancen ferngehalten wird.
Genau da wollen wir eine Art Wächteramt haben. Wenn das nicht möglich ist, gehen wir in die Opposition.
Die Union hat mittlerweile auch ihr Wahlprogramm vorgestellt. Wir sehen da schon große Unterschiede zur FDP - Stichwort Doppelpass, Stichwort Zuwanderungsgesetz. Sind das Punkte, bei denen Sie sagen: Ohne eine liberale Handschrift keine Koalition?
Wir wollen zunächst gut abschneiden und in den Bundestag zurückkehren. Ich bin sehr zurückhaltend, was nicht verhandelbare Koalitionsbedingungen angeht.
Aber eines ist völlig klar: Deutschland braucht eine andere Einwanderungspolitik, wir brauchen mehr Fachkräfte.
Was die Union da macht, ist völlig offensichtlich: Blinken in die richtige Richtung, aber das Tempo stimmt nicht.
Schauen Sie, der französische Präsident Emmanuel Macron hat die klügsten Köpfe nach Frankreich eingeladen. Das wünsche ich mir für Deutschland auch, dass wir die klügsten Köpfe, aber auch die fleißigsten Hände zu uns einladen.
Letzteres gilt vor allem für die Pflegeberufe, weil wir da in der alternden Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten viel Bedarf haben werden.
Wie muss ein modernes Zuwanderungsgesetz aus Ihrer Sicht aussehen?
Das muss auf der einen Seite klarstellen, dass wir mit Flüchtlingen solidarisch sind – aber eben auf Zeit. Hierbleiben kann nicht auf Dauer und automatisch gehen, sondern die Rückkehr muss die Regel sein.
Und auf der anderen Seite: Qualifizierte Menschen, die zu uns kommen und bleiben wollen, dürfen das – auch ohne Arbeitsvertrag –, um sich hier Arbeit zu suchen, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen: Sprache, Akzeptanz unseres Rechts, Verantwortung für den Lebensunterhalt.
Ähnlich dem kanadischen Modell. Das beinhaltet dann natürlich auch Flüchtlinge: Du kommst als Flüchtling und wirst zum qualifizierten Zuwanderer.
Da sind Sie dann doch näher bei SPD und Grünen.
Da bin ich noch zögerlich. Beim Punkt Fachkräfte mit Sicherheit. Was aber die Begrenzung von Masseneinwanderung betrifft - was ich für erforderlich halte -, da würden die Grünen wohl eher auf der Bremse stehen.
In Schleswig-Holstein regiert seit Kurzem Jamaika. Auch ein Modell für den Bund?
Keine Koalitionsaussage zu machen, heißt auch, dass man nicht von vornherein alles ausschließt.
Aber es gibt vor allem mit den Grünen große Differenzen – gerade in Bürgerrechtsfragen waren sie mir zu verhalten in den vergangenen vier Jahren; zuletzt beim Gesetz gegen Hasskommentare im Netz. Da hätte ich mir mehr Druck aus der Bundestagsopposition gewünscht.
Oder beim Thema Energiepolitik. Da sind die Grünen ideologisch, nicht ökologisch – und schon gar nicht ökonomisch. Ich wünsche mir aber eine ökologisch verantwortbare und gleichzeitig rationale Energiepolitik.
Das heißt konkret?
Dass man auf Marktwirtschaft und Technologieoffenheit setzt, statt die Energieträger, die man gerade gut findet, zu subventionieren – obwohl die möglicherweise nicht einmal einen Beitrag zum Klimaschutz liefern.
Die FDP hat ja eine große Tradition im Außenamt. Wenn Sie sich die zahlreichen Brennpunkte in der Welt ansehen: Trump, Brexit, Nordkorea, Putin, Syrien, Iran. Was ist der Ansatz Ihrer Partei?
Im Grundsatz stehen wir da zur aktuellen Linie der Bundesregierung. In einigen Punkten möchten wir aber doch etwas ergänzen.
Erstens: Der Satz von Merkel, dass wir Europäer unser Schicksal ein Stück weit mehr in die Hand nehmen müssen, hat das Enttäuschungspotenzial von 'Wir schaffen das'.
Also eine leichtfertige Reaktion von Merkel auf Trump?
Ich halte es für naiv zu glauben, dass wir uns wirtschafts- oder sicherheitspolitisch von den USA vollständig lösen.
Und es darf auch nicht dazu kommen, dass eine einzelne Präsidentschaft das zerstört, was in Jahrzehnten transatlantischer Freundschaft entstanden ist. Da sollte gerade mit dem gemäßigten Teil aus der Trump-Administration regelmäßig kommuniziert werden.
Also Ideologen von Pragmatikern trennen und versuchen, die zu bewegen. Und die gibt es. Das sind die Praktiker, die aus der Wirtschaft kommen und es auch deswegen gewohnt sind, rationale Entscheidungen zu treffen.
Zweiter Punkt: Verhältnis zu Russland. Es muss glasklar sein, dass wir unseren Nato-Partnern beistehen. Ich denke da vor allem an die baltischen Staaten.
Und es darf natürlich auch keinen Bruch des Völkerrechts geben. Das muss man mit Robustheit darlegen. Wir brauchen aber auch neue Kooperationsangebote an Russland.
Putin wird seine Politik nicht verändern, wenn er einen Gesichtsverlust befürchten muss. Sprechen wir also wieder über Freihandel mit Russland, über kulturellen Austausch.
Also Putin etwas geben, damit er sich bewegt?
Das war mit der Sowjetunion ja nicht anders. Stichwort Nato-Doppelbeschluss.
Nicht die Friedensbewegung hat den Eisernen Vorhang überwunden, sondern Maßnahmen, die Härte mit Kooperation verbunden haben. Das brauchen wir jetzt auch.
Sie haben den Merkel-Satz, dass Europa sein Schicksal ein Stück weit mehr selbst in die Hand nehmen muss, gerade angesprochen. Heißt ja auch: Mehr Europa in der Welt.
Ich bin für eine Stärkung der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union, selbstverständlich. Aber ich würde niemals so weit gehen, dass eine Stärkung Europas gegen die USA gerichtet sein darf.
Wir müssen schlicht unsere Probleme lösen: Stichwort digitaler Binnenmarkt und Schutz vor Machtballung im Markt.
Das hat die EU-Wettbewerbskommissarin – meine Parteikollegin Margrethe Vestager - am Beispiel von Google und Apple und den da verhängten Strafen gezeigt.
Europa muss grenzüberschreitende Kriminalität bekämpfen, Europa braucht eine europäische Energiepolitik, Europa braucht eine gemeinsame Flüchtlingspolitik und Kontrolle der Außengrenze sowie eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
In diesen Punkten brauchen wir mehr Europa. Aber bitte nicht mehr Vereinheitlichung in Europa.
Herr Lindner, zum Abschluss unseres Gesprächs haben wir noch zwei Fragen, die von unseren Lesern stammen und die wir an Sie weitergeben möchten.
Die erste lautet: Sie sind jetzt 38 Jahre alt und schon seit 18 Jahren in der Politik. Wie lange werden Sie noch Politik machen?
So der Wähler will, gerne noch 30 bis 40 Jahre, also bis ans Ende meines Berufslebens eben.
Es gibt ja Leute, die gehen in die Politik und sagen: Ja, danach gehe ich in die Wirtschaft. Mich reizt das nicht, weil ich das, was ich jetzt mache, gerne und mit Leidenschaft tue.
Ich war schon einmal sieben Jahre selbstständig, überwiegend erfolgreich, aber auch lehrreich. Damals dachte ich, ich müsste länger warten, um in der Politik Fuß zu fassen. Es ging schneller. Nun will ich auch möglichst lange Politik machen.
Die zweite Leserfrage: Gerade in Wahlkampf-Zeiten werden andere Parteien eigentlich nur kritisiert. Was können Sie Positives sagen?
Oh, da gibt es einiges: Die Grünen haben in Deutschland das ökologische Bewusstsein gestärkt und als eine Partei, die in besonderer Weise auf die Schonung der natürlichen Lebensgrundlagen achtet, Respekt verdient.
Es ist auch gut, dass es mit der SPD eine Partei der sozialen Demokratie gibt, die in besonderer Weise auf den Ausgleich achtet.
Die CDU ist eine Partei, die in ihr Zentrum die Ordnung gestellt hat. Man wünschte sich in manchen Phasen, etwa der Flüchtlingskrise, dass sie sich an ihr Erbe erinnern würde. Diese Parteien haben alle ihre Berechtigung.
Herr Lindner, vielen Dank für das Gespräch.
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