• Erstmals seit mehreren Jahrzehnten ist der Südschleswigsche Wählerverband (SSW), die Partei der dänischen Minderheit und der nationalen Friesen in Schleswig-Holstein, wieder im Bundestag vertreten.
  • SSW-Spitzenkandidat Stefan Seidler errang mit 0,1 Prozent der Zweitstimmen das Mandat.
  • Im Interview erklärt der 41-Jährige, was er als einzelner Abgeordneter im Bundestag bewirken kann und warum der Norden aus seiner Sicht zu kurz kommt.
Ein Interview

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Herr Seidler, wie war Ihre erste Woche im Bundestag?

Stefan Seidler: Aufregend! Wir haben sehr, sehr viele Presseanfragen bekommen. Über 300 Stück bisher, aus dem ganzen Bundesgebiet, von sämtlichen dänischen Medien bis hin zur BBC und der "Washington Post" – da war wirklich alles dabei. Das ist für unsere kleine Partei schon etwas ganz Besonderes.

Die Reaktionen aus Dänemark sollen richtig euphorisch sein...

Ja, das stimmt. Unser Einzug, dass die dänische Minderheit jetzt einen Vertreter im Bundestag hat, wird in Dänemark ein wenig wie ein gewonnenes Sportereignis gefeiert. Die große internationale Aufmerksamkeit finde ich gut und wichtig. So wird weltweit gezeigt, wie Minderheitenpolitik in Deutschland gehandhabt wird. Es gibt viel Lob dafür, dass die Bundesrepublik ihre Minderheiten so ernst nimmt. Nun wartet aber viel Arbeit auf mich. Als Einzelkämpfer muss ich mir jetzt natürlich ein bisschen Gedanken machen, wie das Team um mich aussieht und wie das Büro aufgestellt sein wird.

Wo hat Sie denn eigentlich die Bundestagsverwaltung hingesteckt? Wer sind Ihre Büro-Nachbarn?

Ein Büro wurde mir noch gar nicht zugeteilt. Zum ersten Mal fahre ich am Dienstag nach Berlin, dann darf ich schon mal Unterlagen ausfüllen und Computer abholen. Aber erst nachdem das amtliche Endergebnis am 15. Oktober bekannt gegeben wurde habe ich auch die vollen Rechte als Abgeordneter und bekomme ein Büro zugeteilt. Bis dahin ist das alles nur provisorisch.

"Wir wollen eine unabhängige Kraft im Bundestag bleiben"

Die großen Fraktionen habe bereits in der vergangenen Woche ihre neuen und alten Mitglieder empfangen, es gab Einführungsveranstaltungen im Plenarsaal, Gruppenfotos und Kennenlernrunden. Fühlen Sie sich da nicht ein bisschen einsam?

Nein, überhaupt nicht. Wegen der ganzen Presseanfragen hätte ich in der ersten Woche gar keine Zeit gehabt mich in Berlin einzuleben. Und ich muss auch sagen: Die Bundestagsverwaltung ist mir gegenüber bisher sehr freundlich und sehr entgegenkommend. Auch aus den anderen Fraktionen kamen Angebote mir unter die Arme zu greifen. Es gibt ja trotz unterschiedlicher politischer Hintergründe auch in den anderen Parteien einige politische Freunde und Weggefährten.

Das ist ein gutes Stichwort: Es gab ja schon Avancen seitens der SPD. Deren Fraktionschef Rolf Mützenich hat Ihnen eine Zusammenarbeit angeboten und sie auf einen Kaffee eingeladen.

Das Gespräch werden wir am Mittwoch führen. Danach werden wir sehen, ob daraus mehr wird. Ich habe aber immer klar gesagt und betone weiterhin: Wir wollen eine unabhängige Kraft im Bundestag bleiben. Auch damit wir immer den Finger in die Wunde legen können, wenn der Norden und Minderheitenrechte zu kurz kommen.

Gibt es denn eine Fraktion, die Ihnen politisch am nächsten ist?

Wir sind ja ein Wählerverband. Wie bei der Gesamtgesellschaft ist es auch bei der dänischen Minderheit und den Friesen so, dass jedes unserer Mitglieder seine politischen Präferenzen hat, rot, grün, gelb, blau – alles ist dabei. Wenn man aber politisch schaut, wir wir so ticken, dann orientieren wir uns schon sehr nach Skandinavien. Wir schauen auf das dortige Sozialstaats- und Bildungssystem, das im Vergleich doch eher in Richtung SPD und Grüne geht. Bei den Wirtschafts- und Infrastrukturthemen, die bei uns auch eine wichtige Rolle spielen, bin ich durchaus näher bei den Christdemokraten und den Freien Demokraten. Um aber Ihre Frage kurz zu beantworten: Wir sind eine Partei in der Mitte, vielleicht mit einer kleinen Links-Tendenz, die mit allen demokratischen Parteien gerne zusammenarbeitet. Ich möchte mich aber nicht auf eine Partei oder auf eine Fraktion festlegen.

"Wir wollen ein gerechteres Stück vom Kuchen abbekommen"

Sie sitzen als einzelner Abgeordneter im Bundestag. Was können Sie da überhaupt bewirken?

Als einzelner Abgeordneter kann ich mehr bewirken, als wenn ich einer großen Fraktion beitreten würde. Denn dann habe ich plötzlich die Berliner Parteizentralen, die mir vorgeben, was ich wann zu sagen habe und wie ich abstimmen soll. Da bin ich lieber unabhängig und kann mich auf die Themenkomplexe konzentrieren, die mir wichtig sind.

Welche?

Uns geht es darum Minderheitenrechte und den Norden zu stärken, wir wollen ein gerechteres Stück vom Kuchen abbekommen. Deutschland soll sich zudem mehr an Skandinavien und Dänemark orientieren, dort gibt es bereits Lösungsmodelle für unsere Probleme, etwa im Bereich Digitalisierung. Bei allem, was bei mir über den Schreibtisch geht, werde ich prüfen, ob da auch genügend Schleswig-Holstein drin ist. Wenn nicht, dann werde ich auf den Tisch hauen! Uns geht es aber nicht darum, dass wir jetzt sagen "Schleswig-Holstein first" oder "Make Schleswig-Holstein great again". Uns geht es einfach darum, einen gerechten Teil zu bekommen.

Haben Sie ein Beispiel?

Die Menschen in Schleswig-Holstein zahlen im Bundesvergleich die höchsten Strompreise. Das hängt damit zusammen, dass wir in Schleswig-Holstein die Energiewende umgesetzt haben. Wir saßen damals zusammen mit der SPD und den Grünen in der Landesregierung und haben dieses Schritt mitgetragen. Nun wird hier der grüne Strom für die gesamte Bundesrepublik produziert, alles wurde dafür umgestellt, darunter das gesamte Stromnetz und die Umspannwerke der Stadtwerke. Auf den höheren Produktionskosten bleiben wir nun aber sitzen. Deswegen muss es einen bundesweiten Ausgleich geben. Ein anderes Beispiel ist die Infrastruktur, die hier in vielen Bereichen hinterherhinkt. Wir brauchen bessere Bahnverbindungen, besseren Nahverkehr. Da ist hier jahrelang nichts investiert worden. Schaut man auf den Bundesverkehrswegeplan für 2030, bekommt Bayern 325 Initiativen, Schleswig-Holstein hingegen nur 22. Das kann doch nicht sein! Wenn obendrein noch der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef den bayerischen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer über den grünen Klee lobt, weil der so viele Bundesmittel aus Berlin nach Bayern geholt hat wie nie zuvor, dann läuft gehörig was schief. Das war der letzte Beweis dafür, dass Millionen Menschen zu kurz gekommen sind und das Nord-Süd-Gefälle immer größer geworden ist.

Deshalb wollen sie "auf den Tisch hauen", wie Sie sagen. Wie kann ich mir das vorstellen?

Das findet natürlich in den Ausschüssen und der politischen Arbeit statt. Ich werde die anderen Abgeordneten auf diese Missstände aufmerksam machen. Ich bin da ja nicht alleine, wir haben ja zum Glück einige andere Nordlichter im Parlament. Ich – und der SSW sowieso nicht – bin mir da nicht zu schade über die politischen Gremien hinweg Brücken zu bauen und mit anderen zu kooperieren.

"Wir haben gesehen, wie viel in Berlin über unsere Köpfe hinweg bestimmt wird"

Sehen Sie sich als Botschafter Dänemarks, der direkt im Parlament sitzt?

Jein. Die Botschaft ist selbstständig, ich will mir keineswegs anmaßen die dänische Außenpolitik in irgendeiner Form im Bundestag zu betreiben. Das Verhältnis zur Botschaft und generell zur dänischen Politik ist sehr, sehr gut. Ich sehe meine Funktion aber eher als Scharnier zwischen den beiden Ländern.

Erstmals seit 60 Jahren war Ihre Partei wieder zu einer Bundestagswahl angetreten. Wie kam es überhaupt zu dieser Entscheidung – und warum jetzt?

Wir sind ja die Partei der dänischen Minderheit und der Friesen. Insbesondere bei den Friesen gibt es noch einiges nachzuholen, um eine reale Gleichstellung in der Gesellschaft zu erreichen. Zum einen hat uns dieser Schiefstand getriggert, zum anderen die bereits angesprochene Entwicklung hier im Norden, Fördergelder kommen einfach nicht mehr an. Wir haben gesehen, wie viel in Berlin über unsere Köpfe hinweg bestimmt wird. Deshalb wollten wir in Berlin selbst mitbestimmen.

Am Ende stimmten 55.330 Menschen in Schleswig-Holstein für Ihre Partei, genug für den Einzug. Waren sie überrascht, dass Sie es tatsächlich in das Bundesparlament geschafft haben?

Naja, ich hätte nicht kandidiert, wenn ich mir nicht vorher ein bisschen ausgerechnet hätte, wie unsere Chancen stehen. Trotzdem war der Wahlsieg und der Einzug in den Bundestag eine Sensation für unsere kleine Partei. Wir haben uns alle wirklich mächtig gefreut – und grinsen nach wie vor.

Zur Person: Stefan Seidler ist seit 2014 Dänemark-Koordinator der schleswig-holsteinischen Landesregierung. Der 41-Jährige hat Staats- und Politikwissenschaft sowie politische Kommunikation studiert. Er trat bei der Bundestagswahl als Spitzenkandidat des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW) an. Weil die Minderheitenpartei aus Schleswig-Holstein von der Fünf-Prozent-Hürde befreit ist, reichten dem SSW 0,1 Prozent der bundesweiten Stimmen für einen Sitz im neuen Bundestag.
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