Terry Reintke führt die Grünen in die Europawahl. Ein Gespräch über Sicherheit in Zeiten von Unsicherheit und den Machtanspruch ihrer Partei im nächsten Europaparlament.
Am 29. Januar 2020 gelang Terry Reintke ein besonderes Kunststück: Der "Brexit" war beschlossen, das Europäische Parlament tagte zum allerletzten Mal mit den Abgeordneten aus Großbritannien. Auf Initiative der Grünen-Politikerin Reintke sangen die Politikerinnen und Politiker in Brüssel zum Abschied gemeinsam die schottische Neujahrshymne "Auld Lang Syne". Sie fassten sich bei den Händen, manche fielen sich ein letztes Mal in die Arme, manche weinten. Ein emotionaler Moment im oft trockenen Parlamentsalltag.
Jetzt hat sich die Grünen-Europaabgeordnete aus dem Ruhrgebiet ein noch schwieriges Kunststück vorgenommen. Bei der Europawahl am 9. Juni tritt sie als Spitzenkandidatin für die deutschen Grünen und auch für die europäische grüne Gesamtpartei an. Keine leichte Aufgabe in einer Zeit der Kriege und Krisen, in der gerade die Grünen für viele Menschen zum Feindbild geworden sind.
Frau Reintke, im Europa-Wahlprogramm der Grünen fällt das Wort "Sicherheit" mehr als 100 Mal. Ist das Ihr neues Lieblingswort?
Terry Reintke: Sicherheit spielt in diesen unsicheren Zeiten in allen Bereichen des Lebens eine zentrale Rolle. Es geht uns um unsere Sicherheit als Gesellschaft, dass wir uns nach innen und außen geschützt fühlen, aber etwa auch um Energie- und Rohstoffsicherheit. Und es geht um die persönliche Sicherheit der Menschen – also Sicherheit vor Jobverlust oder Armut. In der Europäischen Union geht die Schere zwischen Arm und Reich auseinander. Das ist eine Gefahr für unseren Zusammenhalt – und letztlich auch für unsere Demokratie.
FDP und CDU haben die Grünen allerdings schon als Sicherheitsrisiko bezeichnet. Warum sollen sich die Menschen ausgerechnet bei Ihnen sicher fühlen?
Gerade der CDU, die das Land in Regierungsverantwortung überhaupt nicht für Krisen gewappnet hat, würde vielleicht ein wenig mehr Demut guttun. Sie hat Deutschland abhängig gemacht von Putins Gas – mit fatalen Folgen. Genau davor hatte unsere Partei lange gewarnt. Wir wollen eine Politik, die vorsorgt, auch was Abhängigkeiten von Autokraten betrifft.
Was heißt das?
Es ist jetzt klarer denn je, dass wir die Stärke unserer Industrien nur behalten können, wenn wir gemeinsam europäisch investieren und modernisieren. Die USA investieren massiv in ihren Standort. Wenn wir uns im internationalen Wettbewerb behaupten, Energiesicherheit herstellen und Arbeitsplätze sichern wollen, müssen wir das gemeinsam europäisch machen. Und was machen Teile der CDU? Sie torpedieren den Green Deal, eines der entscheidenden Instrumente, um Europas Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig abzusichern.
Die eigentliche Sicherheits- und Verteidigungspolitik haben Sie jetzt noch nicht genannt.
Da müssen wir stärker zusammenarbeiten, um unsere Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Die globale Bedrohungslage hat sich in den letzten Jahren verschärft – verständlich, dass das die Menschen besorgt. Autokratische Regime werden aggressiver, wollen unsere Demokratie schwächen, und es gibt größeren Wettbewerb zwischen China und den USA. Damit sich die Europäische Union in dieser Lage behaupten kann, muss sie schneller und handlungsfähiger werden.
Und wie?
In der Außen- und Sicherheitspolitik können Entscheidungen bisher nur einstimmig getroffen werden. Da müssen sich also 27 Staaten auf Punkt und Komma einigen. Solange jemand wie Viktor Orban am Tisch sitzt, dauern Entscheidungen oft zu lang oder werden ganz ausgebremst. Deswegen wollen wir das Einstimmigkeitsprinzip abschaffen. Wenn wir stärker europäisch denken und handeln, können wir unsere gemeinsame Stärke nutzen. Zum Beispiel in der Rüstungspolitik: Wir wollen, dass Ausgaben für Verteidigung viel mehr gemeinsam auf europäischer Ebene getätigt werden. Dann können wir unsere Steuergelder effizienter nutzen.
Die Verteidigungspolitik ist aber traditionell ein Feld der Einzelstaaten. Warum sollten die Regierungen bei diesem sensiblen Thema Aufgaben an Brüssel abgeben wollen?
Eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet ist im ureigensten Interesse aller Mitgliedstaaten, auch Deutschlands. Denn auch bei der Verteidigung sind es unsere Bündnisse, die uns stark machen. Denken Sie an die Nato. Die Sicherheitslage in Europa und der Welt hat sich verschärft, und das erhöht den Handlungsdruck. Ich glaube, dass der Europawahlkampf ein Impuls für die Hauptstädte ist, um bei dem Thema in der nächsten Legislaturperiode weiterzukommen.
Braucht es einen EU-Verteidigungskommissar?
So einen Vorschlag kann man durchaus unterstützen. Das Amt wäre aber kein Allheilmittel. Wir brauchen Initiativen aus den Mitgliedstaaten für eine gemeinsame Rüstungsbeschaffung sowie für Forschung und Entwicklung. Wir schlagen vor, die nationalen Verteidigungshaushalte mittelfristig stärker zusammenzulegen – und zuvor zumindest einen Topf für gemeinsame Investitionen zu schaffen.
Die deutschen Grünen wurden mal als pazifistische Partei gegründet, haben heute aber keine Berührungsängste mehr mit dem Militär. Teilen Ihre Schwesterparteien in Europa diesen Kurs?
Niemand wünscht sich die dramatisch veränderte Sicherheitslage. Wir alle sehen, was in der Ukraine passiert ist und welchen brutalen imperialistischen Anspruch Putin in Europa stellt. Wir haben in der Europäischen Grünen Partei in den letzten Jahren viele neue Parteien gerade aus Zentral- und Osteuropa aufgenommen, die sich dieser Situation sehr bewusst sind. Es geht uns gemeinsam um unsere europäische Friedensordnung, um unsere Demokratie, den Schutz unserer Freiheit. Diese Werte verbinden uns.
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Die Grünen waren in der zu Ende gehenden Wahlperiode nicht Teil der informellen EU-Koalition aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen. Soll das so bleiben?
Nein. Grundsätzlich ist die Logik im Europäischen Parlament ja eine andere, als man es aus dem Bundestag kennt. Auch die Parteien, die quasi in der Opposition sind, können an Gesetzen mitarbeiten. Auf unsere Initiative geht zum Beispiel das einheitliche Ladekabel zurück. In der nächsten Legislaturperiode wollen wir eine noch aktivere Rolle spielen. Wenn es bei den Wahlen zu einem Rechtsruck kommt, könnten die großen Errungenschaften im Klimaschutz und in der Sozialpolitik zurückgedreht werden. Das wollen wir verhindern. Wir Grüne wollen Verantwortung übernehmen und werden offen sein für Verhandlungen.
CSU-Politiker Manfred Weber hat Ihrer Fraktion Verantwortungslosigkeit vorgeworfen, weil Sie im EU-Parlament gegen den mühsam ausgehandelten Asyl- und Migrationspakt gestimmt haben.
Beim Asyl- und Migrationspakt haben wir in Teilen der Reform zugestimmt, in anderen nicht, weil Kernforderungen nicht enthalten waren. Es wird sich nun zeigen, ob die neuen Regelungen helfen – und wenn sie es nicht tun, arbeiten wir weiter für Verbesserungen.
2019 haben die Grünen in Deutschland bei der Europawahl ein Rekordergebnis von 20 Prozent eingefahren – auch weil das Klima das dominante Thema war. Inzwischen scheinen viele Menschen die Lust am Klimaschutz verloren zu haben. Was ist da für Sie schiefgelaufen?
Wenn politische Maßnahmen in die Umsetzungsphase kommen, wenn sie also den Alltag verändern, führt das auch zu Skepsis. Ich bin aber zuversichtlich. Ich besuche beispielsweise viele Unternehmen und nehme eine große Offenheit wahr. Dort weiß man, dass wir auf dem Weg der Modernisierung unserer Industrien hin zu klimaneutralen Lösungen vorankommen müssen. Die Europäische Union ist da Teil der Lösung. Denn dort haben wir viele Entscheidungen vorangetrieben, die auch in der Bevölkerung sehr populär sind.
Zum Beispiel?
Ganz aktuell: Das Recht auf Reparatur, das diese Woche verabschiedet wurde. Wer beispielsweise seine Spülmaschine vor Ablauf der Garantie repariert, erhält eine Garantieverlängerung, Hersteller dürfen keine Software mehr einbauen, die eine Reparatur erschwert. Das ist nicht nur sinnvoll angesichts der vielen Tonnen Elektroschrott pro Jahr, sondern auch verbraucherfreundlich. Solche Schritte machen das Leben der Menschen einfacher.
Die Grünen dringen auf die Umsetzung des "Green Deal", also des großen Klimaschutzpakets, das Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf den Weg gebracht hat. Ist Frau von der Leyen Ihre beste Verbündete?
Wir haben die Initiative für den Green Deal angestoßen, mit dem wir die Klimaveränderung aufhalten, Biodiversität schützen und Industrie und Wirtschaft klimaneutral wettbewerbsfähig machen. Aber es war in der Tat das zentrale Gesetzespaket von Ursula von der Leyen in den letzten fünf Jahren. Jetzt ist sich ihre eigene Parteienfamilie, die Europäische Volkspartei, zu der CDU und CSU gehören, offenbar nicht mehr so sicher, was sie eigentlich will. Wir werden da aber nicht locker lassen. Wenn der Green Deal nicht umgesetzt wird, wäre das nicht nur klimapolitisch dramatisch, sondern auch wirtschaftspolitisch fatal. Die Menschen in der EU und unsere Unternehmen brauchen jetzt Planungssicherheit. Nicht für die nächsten drei Monate, sondern für die nächsten zehn, fünfzehn Jahre.
Über die Gesprächspartnerin
- Terry Reintke wurde 1987 in Gelsenkirchen geboren. Sie studierte Politikwissenschaft mit Diplom-Abschluss in Berlin und Edinburgh. 2014 wurde sie erstmals ins Europäische Parlament in Brüssel und Straßburg gewählt. Seit Oktober 2022 führt sie dort gemeinsam mit dem Belgier Philippe Lamberts die Fraktion Grüne/Europäische Freie Allianz.
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