Die Europawahlen haben einen Rechtsruck gebracht und die Ampelkoalition weiter geschwächt. Anna Lührmann ist Europa-Staatsministerin im Auswärtigen Amt. Im Interview mit unserer Redaktion spricht die Grünen-Politikerin über die Folgen für ihre Partei – und ihre Erwartungen an die nächste EU-Kommission.
Als Anna Lührmann 2002 für die Grünen in den Bundestag einzog, war sie die damals jüngste Abgeordnete. 2009 verließ sie das Parlament wieder, promovierte und arbeitete als Junior-Professorin in Schweden. 2021 kehrte sie dann in den Bundestag zurück – und wurde zudem Staatsministerin für Europa und Klima im Auswärtigen Amt.
Die Grünen sehen sich als überzeugte Europäer – und als Partei der jungen Generation. Doch bei den Europawahlen brach die Partei ein und verlor besonders bei Erstwählerinnen und Erstwählern an Unterstützung. Zeit für ein paar Fragen.
Frau Lührmann, wie enttäuscht sind Sie vom Wahlergebnis?
Anna Lührmann: Ich bin sehr enttäuscht. Wir haben für ein besseres Ergebnis gekämpft, gerade um pro-europäische Kräfte in Europa zu stärken. Jetzt müssen wir es aufarbeiten und überlegen, wie wir besser werden können.
Gestärkt wurden die europakritischen bis anti-europäischen Kräfte. Der Rechtsruck zieht sich fast durch alle Länder. Welche Konsequenzen ziehen Sie aus diesem Ergebnis?
Die Anti-Europäer haben hinzugewonnen, aber sie haben keine Mehrheit. Weder in Deutschland noch in Europa. Wir müssen das jetzt in Ruhe analysieren. Auf jeden Fall müssen wir offensiver und genauer kommunizieren. Wir müssen ein deutlich größeres Augenmerk auf die sozialen Medien legen. Das gilt gerade mit Blick auf die junge Generation. Da haben wir Grünen im Vergleich zur vorigen Europawahl viel Unterstützung verloren.
Was haben Sie falsch gemacht?
Wir haben als Grüne auf die Kraft des guten Argumentes gesetzt – und zum Teil auf sehr detaillierte und komplizierte Konzepte. Beim Klimaschutz haben wir gute Vorschläge, wie wir ihn gerade auf europäischer Ebene so gestalten, dass auch ärmere Teile der Bevölkerung profitieren. Diese Konzepte sind aber in diesen rauen Zeiten in der Breite der Bevölkerung nicht angekommen.
Offenbar steht Klimaschutz einfach nicht mehr ganz oben auf der Prioritätenliste. Für viele Menschen waren die Themen Frieden und Migration wichtiger.
Auch hier haben wir als Grüne gute Konzepte, Annalena Baerbock erhält für ihre Außenpolitik viel Unterstützung. Die Frage ist aber, wie man aus persönlichen Kompetenzzuschreibungen eine Unterstützung für die ganze Partei macht. Wir müssen uns in einigen Themen sicher breiter aufstellen. Speziell die junge Generation hat auch durch die Corona-Pandemie den Boden unter den Füßen verloren. Für Teenager war das ein schmerzhafter Einschnitt. Wir müssen nachdenklich sein und überlegen, wie wir bessere Antworten darauf geben.
Im Europäischen Parlament wird die Europäische Volkspartei, zu der CDU und CSU gehören, wieder die größte Fraktion. Wird die Bundesregierung dann auch die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin unterstützen?
Die Union hat die Wahl gewonnen, dazu gratulieren wir. Über die neue Kommission werden in den nächsten Wochen intensive Gespräche geführt. Frau von der Leyen muss eine Mehrheit im Europäischen Parlament finden. Das muss eine Mehrheit demokratischer Parteien sein. Über das inhaltliche Programm der nächsten EU-Kommission werden noch Gespräche zu führen sein. Wir Grüne stehen für Verhandlungen bereit.
Welche Themen muss die neue Kommission aus Ihrer Sicht besonders dringend angehen?
Drei Themen sind zentral: Die EU muss Sicherheit garantieren. Wir müssen die Ukraine weiterhin unterstützen, Europa muss aber auch stärker zusammenarbeiten, um die eigene Verteidigungsfähigkeit auszubauen. Zweitens müssen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Europa gestärkt werden. Und drittens muss die Kommission das Klimaschutzprogramm Green Deal zum Erfolg führen. Dazu gehört auch die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft – im Einklang mit einem sozialen Ausgleich.
Die Ampel-Parteien haben sich 2021 in ihrem Koalitionsvertrag ehrgeizige Ziele für europapolitische Reformen vorgenommen. Unter anderem sollen Entscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik künftig mit Mehrheit getroffen werden können – nicht mehr nur einstimmig. Sind solche Reformen überhaupt noch realistisch?
Wir treiben sie jeden Tag voran, und zwar mit großem Elan. Im Rat der Außenministerinnen und Außenminister haben wir eine Gruppe von Mitgliedsstaaten aufgebaut, die dieses Ziel teilt. Wir haben Vorschläge entwickelt, um auf Bedenken der Länder einzugehen, die bei der Abschaffung der Einstimmigkeit Bedenken haben, und wir werden entschlossen daran weiterarbeiten. Noch im Juni werden wir eine konkrete Roadmap für EU-Reformen beschließen. Wir müssen die EU fit für die Zukunft machen.
Sie sind auch Beauftragte der Bundesregierung für die deutsch-französischen Beziehungen. Wie sehr hat Sie die Entscheidung von Präsident Emmanuel Macron überrascht, Neuwahlen anzusetzen?
Ich glaube, wir alle waren sehr überrascht.
Wie sehr besorgt Sie dieser Schritt? Bei den Europawahlen sind die Rechtspopulisten von Marine Le Pen bereits stärkste Kraft geworden.
Es dürfte jedem klar sein, dass es ein sehr risikoreicher Schritt ist. Allerdings ist eine Wahl erst dann entschieden, wenn sie stattgefunden hat. Wir werden das Ergebnis abwarten müssen.
Die Union ruft auch in Deutschland nach Konsequenzen. Sie fordert, dass Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag die Vertrauensfrage stellt. Wäre das richtig?
Nein. Es ist jetzt wichtig, Politik so zu machen, dass sie Rückhalt in der Bevölkerung findet. Wiederholte Wahlen bergen auch das Risiko, dass die Bevölkerung des politischen Prozesses überdrüssig wird. Wir erleben eine krisenhafte Zeit und müssen jetzt die Entscheidungen treffen, die anstehen. Die Menschen wollen ein Land, das funktioniert: gute Schulen, bessere Infrastruktur, mehr Wohlstand. Wir müssen in die Zukunft dieses Landes investieren.
Zur Person
- Anna Lührmann wurde 1983 im hessischen Lich geboren. Schon kurz nach ihrem Abitur wurde sie 2002 Bundestagsabgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen. Parallel studierte sie Politikwissenschaft. Nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag 2009 arbeitete sie unter anderem für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen sowie als Junior-Professorin an der Universität Göteborg. 2021 wurde sie erneut in den Bundestag gewählt. Im Auswärtigen Amt ist sie als Staatsministerin für Europa- und Klimapolitik zuständig sowie Beauftragte der Bundesregierung für die Beziehungen zu Frankreich.
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