Zumindest in Sachsen ist das große politische Beben ausgeblieben. Die Kenia-Koalition hat ihre Mehrheit verloren, doch der Freistaat wird regierbar und Michael Kretschmer Ministerpräsident bleiben. Sahra Wagenknecht und ihre neue Partei stehen allerdings vor einem riskanten Manöver.
Der Sieg beginnt bei der sächsischen CDU mit Stille. Im Fraktionssaal unter dem Dach des Dresdner Landtags sind um 18:00 Uhr nur die Moderatorenstimmen der Wahlsendung zu hören. Die Prognose für das Nachbarland Thüringen verfolgen die Gäste mit Ruhe, Fassung und Anspannung. Erst als klar ist, dass es in Sachsen wieder knapp reicht für Platz 1, ertönt Applaus. Es gab bei der CDU schon frenetischeren Jubel nach Wahlsiegen.
Sachsen und Thüringen haben gewählt – und zumindest bei der Wahl in Sachsen ist das ganz große Beben ausgeblieben. Der Freistaat wird irgendwie regierbar bleiben. Nur wie? Das wird sich noch zeigen müssen. Klar ist bisher nur: Der harte Wahlkampf hat Spuren hinterlassen. Die Chefredakteurin der "Sächsischen Zeitung" hat kurz vor der Wahl geschrieben, Erschöpfung, Wut und Frustration hätten das Land erfasst – und die Sorge, wie aus der "verkämpften Gemengelage" eine neue konstruktive Kraft entstehen soll.
Ein Stück Erleichterung liegt an diesem Sonntagabend in der hitzeschweren Spätsommerluft in Dresden. Aber auch eine gewisse Ratlosigkeit.
Ein endgültiger Abschied vom alten Parteiensystem
Auf jeden Fall hat sich Sachsen mit dieser Wahl endgültig von dem Parteiensystem verabschiedet, das die Bundesrepublik in den 90er- und Nullerjahren geprägt hat. Die Linke ist dort marginalisiert, die FDP zur Splitterpartei abgerutscht, die Grünen haben sich nur knapp im Landtag gehalten. Die CDU, die in den 90er-Jahren noch Ergebnisse jenseits der 50 Prozent holte, hat die AfD nur mühsam auf den zweiten Platz verwiesen.
Doch das war auch vor fünf Jahren schon ähnlich. Im Vergleich zu 2019 halten sich die Verschiebungen in Grenzen. Mit zwei Ausnahmen: Nach Prozenten vollzieht sich die größte Umwälzung bei der Linken und ihrer Abspaltung. Während die Linke ihren Stimmenanteil mehr als halbiert und nur durch zwei Direktmandate im Landtag bleibt, setzt das Bündnis
Migration war das bestimmende Thema - aber wem hat es genützt?
Migration war das bestimmende Thema dieser Landtagswahl – und fast alle Parteien sind darauf eingegangen. Die Union hat sich in Forderungen selbst überboten: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer pochte auf einen "Aufnahmestopp", Friedrich Merz auf Zurückanweisungen an den Grenzen, Markus Söder zweifelte am Recht auf Asyl.
In Berlin sprang die rot-grün-gelbe Bundesregierung auf diesen Zug auf, präsentierte nach dem Messer-Attentat von Solingen hastig ein Maßnahmenpaket und setzte 28 Afghanen in einen Abschiebeflug.
Wer hat am Ende davon profitiert? Wenn alle Parteien auf ein Thema anspringen, entscheiden sich besonders viele Wählerinnen und Wähler für das "Original" – so lautet eine gängige Erkenntnis aus anderen Wahlen in Europa. In der Tat haben die etablierten Parteien die AfD nicht kleiner gemacht. Doch die AfD ist auch nicht gerade über sich hinausgewachsen. Zumindest in Prozenten bleibt sie unter ihrem Ergebnis der Europawahl.
"Jetzt geht es darum, eine Regierung zu bilden mit einem Vertrag, der zuerst den Menschen im Land gefällt – und dann den Parteitagen."
Sachsens Innenminister Armin Schuster sieht im Wahlergebnis deswegen auch eine Bestätigung der strengen Asylpolitik, die Sachsens CDU vom Bund fordert und zum Teil auch vor Ort umsetzt. Dafür habe er viel Zustimmung bekommen, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion auf der CDU-Wahlparty. An diesem Kurs müsse das Land jetzt festhalten.
Aus Schusters Sicht besteht ein zentraler Auftrag der nächsten Staatsregierung darin, die Zustimmung zur AfD zu verringern. "Jetzt geht es darum, eine Regierung zu bilden mit einem Vertrag, der zuerst den Menschen im Land gefällt – und dann den Parteitagen", sagt er.
Redaktioneller Hinweis
- Gerne hätte unsere Redaktion auch vom Wahlabend der AfD in Sachsen berichtet. Das hat die Partei aber trotz mehrerer Anfragen nicht ermöglicht.
Kanzlerpartei SPD: So etwas wie Erleichterung
Erfolg ist immer eine Frage der Perspektive. Die Kanzlerpartei SPD zum Beispiel hatte in Sachsen viel Schlimmeres befürchtet, vielleicht sogar den ersten Auszug aus einem Landesparlament. Doch die Genossen können ihr eher dürftiges Ergebnis von 2019 etwa halten.
"Wir können uns nicht beschweren über dieses Ergebnis."
Rund um einen Getränkewagen vor dem Dresdner Herbert-Wehner-Haus ist die Stimmung am Sonntagabend deshalb gar nicht mal schlecht. "Wir können uns nicht beschweren über dieses Ergebnis", sagt Rasha Nasr, in Dresden geborene SPD-Bundestagsabgeordnete, im Gespräch mit unserer Redaktion. Das BSW habe mit einem zweistelligen Ergebnis aus dem Stand einen Nerv getroffen, räumt sie ein. Das werde man sich nun genau anschauen müssen.
BSW vor einem riskanten Manöver
Die bisher regierende Kenia-Koalition aus CDU, Grünen und SPD hat ihre Mehrheit im Landtag verloren, doch das Verhältnis zwischen CDU und Grünen galt ohnehin als zerrüttet. Der Freistaat braucht also ein neues Regierungsbündnis. Auf den kräftezehrenden Sommerwahlkampf werden komplizierte Koalitionsverhandlungen folgen.
Im Interview mit unserer Redaktion hat Michael Kretschmer eine Koalition mit der AfD kategorisch ausgeschlossen. Eine Regierungsmehrheit wäre dann nur mit CDU, SPD und dem BSW von Sahra Wagenknecht möglich. Inhaltlich haben sich die bekennende "Linkskonservative" Wagenknecht und die ebenfalls konservative Sachsen-CDU längst aufeinander zubewegt – irgendwie wird man wohl zusammenkommen.
Die sächsische BSW-Spitzenkandidatin Sabine Zimmermann legt die Latte für ihre Partei am Sonntagabend so hoch, dass einem schwindelig werden kann: "Mit uns muss sich die Politik verändern, ganz spürbar für die Bürgerinnen und Bürger – und das in kurzer Zeit", sagt sie in der ARD. Ein größeres Versprechen kann eine Politikerin kaum abgeben.
Das BSW steht damit vor einem gewagten Manöver: Wohl noch nie ist eine Partei so schnell nach ihrer Gründung schon Teil einer Landesregierung geworden. Wer will, könnte höchstens Parallelen zu einer gewissen Schill-Partei ziehen: Sie gelangte 2001 in Hamburg an die Macht – und zerlegte sich dann schnell selbst in inneren und äußeren Konflikten.
Sahra Wagenknecht hat zu viel Erfahrung, um mit ihrem BSW gleich wieder unterzugehen. Doch auch die Parteichefin, die sich in mögliche Koalitionsgespräche in Dresden und Erfurt persönlich einschalten will, steht vor einer Herausforderung. Regieren ist ohne Kompromisse nicht möglich. Und um Kompromisse hat Wagenknecht in ihrer 35-jährigen politischen Karriere bisher einen großen Bogen gemacht.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.