Erst wenige Monate vor der Landtagswahl hat sich Björn Höcke für seinen neuen Wahlkreis entschieden: Greiz II. Eine ländliche Region im thüringischen Vogtland. Wie stehen die Chancen, dass der AfD-Mann sich in Greiz gegen seine Gegenkandidierenden durchsetzt?
Dichte Wälder wechseln sich mit satten Feldern ab, während die Straßen schmaler werden. Zwischen
Der Kreis Greiz liegt im Osten des Freistaats, im Dreiländereck von Thüringen, Sachsen und Bayern. Im Vogtland. Erst im Frühjahr hat AfD-Chef Höcke bekannt gegeben, hier, statt in seinem Heimatkreis, für die Landtagswahlen antreten zu wollen.
Was bedeutet diese Kandidatur für Höckes Gegenkandidaten und die Region? Wie kommt der Rechtsaußen in Greiz II an?
Landesfinanzministerin Heike Taubert stammt gebürtig aus dem Vogtland, dem sächsischen Teil. Doch auch in der Kreisstadt Greiz ist sie verwurzelt, durch ihre Großeltern. Die Leute gingen während des Wahlkampfes "sehr anständig" mit ihr um, das habe sich durch Höckes Kandidatur nicht verändert. Natürlich gebe es immer Nörgler und jene, die Stunk machen – nach einem Gespräch würden die "Schreihälse" aber meist ruhig. "Es gibt viel Frust hier", sagt Taubert mit ruhiger Stimme.
Altersarmut sei nach wie vor ein großes Thema in der Region. Auch der Ukraine-Krieg beschäftige die Menschen, gerade die jungen. Und die Erfahrungen mit der Treuhand hätten Auswirkungen bis heute. Die Treuhandanstalt war zum Ende der DDR dafür zuständig, die volkseigenen Betriebe zu privatisieren. Zahlreiche Firmen wurden geschlossen. Im Zuge dessen haben Tausende Ostdeutsche ihre Jobs verloren.
"Es gibt viele Erfahrungen, die können wir heute nicht ändern, aber sie wirken nach", erklärt Taubert. Auch sie selbst hat ihre Nachwende-Erfahrungen gemacht, weiß aber: "Wenn ich mich daran festhalte, gehe ich kaputt. Man muss nach vorne schauen."
Aus Sicht von Taubert vergessen viele Menschen, wie viel Geld investiert wurde, sowohl in den wirtschaftlichen Aufbau als auch in Kulturangebote. "Die Halbwertszeit, etwas zu schätzen zu wissen, ist sehr kurz geworden."
Taubert sitzt im Hinterhof der Kultur- und Begegnungsstätte 10arium und nippt an ihrer Erdbeerlimonade. Am Abend wird es hier eine Lesung von Arne Semsrott geben. Der Titel des Buches: "Machtübernahme. Was passiert, wenn Rechtsextreme regieren. Eine Anleitung zum Widerstand".
Eingeladen hat dazu das Bündnis Kolibri, das sich aus den Demonstrationen nach den Correctiv-Recherchen zu den Ausweisungsplänen der AfD geformt hat. Aus Sicht von Initiator Marcel Buhlmann gibt es in Greiz ein größeres Problem als die Kandidatur
Ein gutes Dutzend Menschen ist bereits eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung vor Ort. Ein bunter Haufen unterschiedlicher Altersklassen. Manche mit Irokesen-Schnitt oder Schottenrock, andere im bunten Sommerkleid. Man kennt sich, die Begrüßungen fallen herzlich aus. Mit kühlen Getränken wird der Feierabend nach einem hießen Sommertag eingeläutet.
"Die Demokratiedemos von Anfang des Jahres haben uns gezeigt: Es gibt einige Menschen hier, die etwas tun wollen", sagt eine Aktivistin, die lieber anonym bleiben möchte. Sie fühlt sich nicht sicher, wurde laut eigenen Angaben schon bedroht – sowohl im öffentlichen als auch im digitalen Raum. Buhlmann kennt das Bedrohungspotenzial in Greiz: Die Menschen, die sich bemühen, seien nicht in der Mehrheit.
Der parteilose Stadtrat selbst ist vor Jahren durch den Anruf einer Freundin nach Greiz gekommen. Sie hatte ihn darum gebeten, weil es dort ein Problem mit Rechten gegeben habe. Greiz ist auch der Heimatkreis des rechtsextremen David Köckert, Initiator des rechtsextremen Vereins "Thügida & Wir lieben Sachsen" mit Sitz in Greiz. In dem Landkreis herrschen also schon seit Jahren rechtsextreme Strukturen.
Dagegen anzuarbeiten schlaucht. Nachdem Autor Semsrott aus seinem Leitfaden für den Widerstand vorgelesen hat, dreht sich die Diskussion auch um Hoffnungslosigkeit. Zu wenige, so der Tenor, stehen auf. Trotzdem sind an dem Abend mehr Menschen da, als Buhlmann erwartet hätte. Neben Finanzministerin Heike Taubert ist auch ein weiterer Direktkandidat für den Landkreis Greiz II vor Ort: Linken-Politiker Leon Walter.
Er hätte die besondere Aufmerksamkeit, die die Kandidatur von Björn Höcke seinem Landkreis und ihm einbringt, nicht gebraucht, sagt Walter. Sein Plan sei es gewesen, in Ruhe mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und dabei einige vielleicht sogar zu motivieren, der Linken beizutreten.
Am Morgen nach der Veranstaltung steht er früh auf, packt Wahlkampfunterlagen und fährt nach Ronneburg, eine Kleinstadt im nördlichen Teil des Kreises. Dort steht er unter einem Sonnenschirm und will mit den Menschen auf dem Markt ins Gespräch kommen. Auf der gegenüberliegenden Seite: Christian Tischner (CDU), ebenfalls mit Sonnenschirm, ebenfalls mit Wahlwerbematerial.
Beiden geht es um die Wurst, genauer gesagt das Thüringer Nationalgericht, die Rostbratwurst. Tischner verteilt Senf, Walter Grillzangen. Viele Menschen seien freundlich, manche streitlustig, wenige aggressiv, sagt Walter. "Für manche sind Krieg und Frieden die entscheidenden Themen, für viele sind es aber die Themen, die hier in der Region drängen: medizinische Versorgung, Nahverkehr, Versorgung im Alter." Dafür – und für Jugendliche – will sich der junge Linke einsetzen. Wie Aktivist Buhlmann bemängelt auch Walter, dass die Botschaften der AfD und des BSW medial aufgebauscht würden.
Gegenüber, bei CDU-Politiker Tischner, suchen Menschen ebenfalls das Gespräch. "Ich drück‘ Ihnen die Daumen", sagt ein Herr im gestreiften Hemd. Eine Frau mit Rollator kommt vorbei und sagt: "Es fehlen Ärzte, mindestens zwei." In Ronneburg gibt es keinen Hausarzt mehr, erklärt Tischner. Eine bessere medizinische Versorgung, dafür wolle er sich starkmachen. "Meine Aufgabe ist es, Politik für die Menschen hier vor Ort zu machen und mich um Lösungen für Probleme zu kümmern."
Er sieht sich als Anwalt der Bevölkerung in seinem Wahlkreis. Tischner ist im Kreis Greiz geboren, wirbt mit dem Slogan "Der von hier!".
Er sagt, die Bevölkerung habe viele Veränderungen mitgemacht, daher rühre auch der Frust. Die Medien würden diesen Frust eher noch verstärken: "Wenn Menschen hier die Tagesschau anschauen, geht es ums Gendern, Kiffen oder den Wechsel des Geschlechtes, das sind aber nicht die Dinge, die die Leute hier bewegen." Was laut Tischner wirklich bewegt: medizinische Versorgung, Bildung, Migration. Verändert hätten sich sein Wahlkampf und seine Begegnungen vor Ort durch die Kandidatur Höckes nicht.
Beunruhigt ist er trotzdem: Tischner fürchtet, seine Heimat könnte am 1. September einen blauen Stempel bekommen. Meint: Björn Höcke könnte das Direktmandat in Greiz II gewinnen. "Wer rot wählt, bekommt blau", sagt Tischner, während er den Menschen am Wahlstand erklärt, wie der Wahlzettel funktioniert. Aus seiner Sicht ist jede Stimme, die nicht an ihn geht, eine indirekte Stimme für Höcke – denn die Umfrageergebnisse für Linke und SPD sehen alles andere als berauschend aus.
Nach einem heißen Vormittag am Wahlkampfstand räumt Tischner sein Werbematerial zurück in eine Kiste und klappt den orange-weiß gestreiften Sonnenschirm zusammen. Auch Walter gegenüber hat bereits eingepackt und sich auf den Weg gemacht, um Flyer zu verteilen. Für den CDU-Politiker ist der Wahlkampftag noch lange nicht um, gegen Mittag will er sich auf Spielplätzen zeigen, Leute ansprechen, er will auch die Eltern erreichen. Die heiße Phase duldet keine Auszeit.
Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels wurde berichtet, dass Greiz im Dreiländereck von Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt liegt, stattdessen liegt Greiz im Dreiländereck Thüringen, Sachsen und Bayern. Der Landkreis Greiz reicht allerdings bis nahe an die sachsen-anhaltinische Grenze heran.
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