Die Parlamentswahlen am 15. Oktober in Polen sind auch Wahlen um die Demokratie. Die regierende PiS-Partei steht wegen ihres Verhältnisses zur Rechtsstaatlichkeit in der Kritik. Politikwissenschaftler Pawel Karolewski erklärt, wie die PiS Deutschland als Feindbild im Wahlkampf benutzt.

Ein Interview

Herr Karolewski, im polnischen Wahlkampf für die Parlamentswahlen macht die seit 2015 regierende PiS immer wieder Stimmung gegen Deutschland und die EU. Zuletzt veröffentlichte sie einen Spot, in dem Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski Deutschland in einem Telefonat eine Abfuhr erteilt. Was soll das?

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Pawel Karolewski: Deutschland spielt eine wichtige Rolle für die PiS-Partei, auch außerhalb des Wahlkampfs. Das hat vor allem damit zu tun, dass die PiS gerne Geschichtspolitik betreibt. Ihrer Ansicht nach hat Deutschland die Schuld des 2. Weltkriegs gegenüber Polen noch nicht beglichen. Außerdem üben die Deutschen eine vermeintliche Dominanz in der Europäischen Union aus. Deshalb eignet sich Deutschland als Feindbild, um die eigene Politik vor den Wählern zu legitimieren und von eigenen Fehlern in der EU abzulenken.

Wie macht die PiS das?

Das nimmt manchmal skurrile Züge an: Der polnische Premierminister behauptete auf Twitter, dass Polen eingekreist sei. Im Osten von der Gruppe Wagner und im Westen von der Gruppe Weber (Manfred Weber, deutscher Chef der Europäischen Volkspartei (EVP) in der EU – Anm. der Redaktion). Dieser vermeintliche Zangenangriff sollte ein Bedrohungsgefühl in der Bevölkerung auslösen, mit dem die PiS Wahlkampf macht.

Prof. Dr. Ireneusz Pawel Karolewski (Bild: Uni Leipzig)

Sollte die Bundesregierung oder die EU auf solche Äußerungen reagieren?

Das würde der PiS im Wahlkampf vermutlich nur weitere Munition liefern, weil sich die Partei dann darauf beziehen kann.

Nehmen auch die anderen Parteien Bezug auf Deutschland und die EU, zum Beispiel die PO vom ehemaligen EU-Ratspräsident Donald Tusk, die in Umfragen an zweiter Stelle steht?

Die demokratische Opposition prangert den Kurs der PiS an, weil er Polen in der Europäischen Union isoliert und wirtschaftlich schadet. Sie ist, wie auch der Europäische Gerichtshof, der Auffassung, dass die Justizreformen in Polen die Kriterien der Rechtsstaatlichkeit massiv verletzen. Sollte die Opposition gewinnen, würde das zu einer neuen Europapolitik führen. Die demokratische Opposition bekennt sich zum Rechtsstaat und Demokratie, wie es in den EU-Verträgen vorgesehen ist.

Wahrscheinlicher ist aber im Moment ein Wahlsieg der PiS am 15. Oktober. Wie will die Partei langfristig das Problem lösen, dass sie einerseits gegen EU-Verträge verstößt, aber auf Gelder der EU angewiesen ist?

Ich glaube nicht, dass die PiS eine langfristige Strategie verfolgt. Natürlich würde die PiS gerne die Gelder ausgezahlt bekommen, aber die Innenpolitik und der eigene Machterhalt sind ihr wichtiger. Es geht ihr darum, die Institutionen des Staates so zu vereinnahmen, dass es der Partei einen längerfristigen Machtvorteil verschafft. Das betrifft Gerichte, Wahlkommissionen, aber auch Medien. Mithilfe von Propaganda-Medien versucht die PiS, der Opposition die Schuld daran zu geben, dass das EU-Geld nicht ausgezahlt wird, was völlig absurd ist.

Ist die Macht der PiS über die Medienlandschaft in Polen bereits so groß?

Noch ist die Situation nicht so schlimm wie in Ungarn. Dort sind ca. 90 Prozent der privaten und staatlichen Medien in einer Holding, die im Grunde von der Regierungspartei Fidesz kontrolliert wird. In Polen ist es ungefähr die Hälfte der Medien. Die sogenannten öffentlich-rechtlichen Sender sind zu Propaganda-Maschinen geworden, wie ich es mir noch vor zehn Jahren nicht hätte vorstellen können. Da wird mit Lügen, Unterstellungen und Schikanen gegen Oppositionelle und kritische Journalisten gearbeitet.

Aber die privaten Sender können frei berichten?

Im privaten Bereich gibt es noch Radio- und Fernsehsender, die nicht gleichgeschaltet sind. Aber auch hier kaufen PiS-nahe Konzerne in staatlicher Hand immer mehr auf. 2021 hat z.B. der staatliche Energiekonzern Orlen 20 regionale Tageszeitungen, 120 Wochenzeitungen und 500 Internetportale der deutschen Verlagsgruppe Passau abgekauft. Seitdem sind diese gleichgeschaltet – und ich verwende diesen Begriff bewusst. Weil es nicht um eine subtile Veränderung im Ton geht, sondern um echte Propaganda.

Würden Sie vor diesem Hintergrund noch von fairen Wahlen sprechen?

Schon bei den letzten Wahlen gab es daran erhebliche Zweifel. Das hat aber nicht nur mit den Medien zu tun, sondern umfasst noch andere Aspekte. Es gibt verlässliche Belege dafür, dass führende Oppositionspolitiker von den Geheimdiensten mit der Pegasus-Software bespitzelt wurden. Das heißt, ihre mobilen Telefone wurden überwacht und Gespräche mitgehört, und zwar auch mitten im Wahlkampf.

Wie sieht es mit der Auszählung der Stimmen aus?

Die Wahlen wurden bislang nicht im großen Stil gefälscht, wie etwa in Russland oder Belarus. Trotzdem gab es bei den letzten Wahlen, vor allem bei den Präsidentschaftswahlen 2020, Zweifel, ob zum Beispiel die Stimmen von im Ausland lebenden Polen fair gezählt wurden. Die Wahlkommissionen an Konsulaten und Botschaften im Ausland haben nämlich nur 24 Stunden Zeit, um die Stimmen zu zählen. Zudem wurden in einigen Ländern bei der Briefwahl, wie z.B. in Großbritannien, Wahlzettel oft nicht rechtzeitig zugestellt. Dagegen gab es zahlreiche Klagen beim Obersten Gericht in Polen, auch angesichts eines Sieges des PiS-Kandidaten von nur 51,03 Prozent. Nur 93 Klagen wurde stattgegeben und mit dieser geringen Zahl die Legalität dieser Wahlen anerkannt. 2018 wurde eine neue Kammer beim Obersten Gericht installiert, die über die Legalität von Wahlen entscheidet. Diese Kammer ist nur mit Leuten besetzt, die die PiS bestimmt hat und wird vom EuGH in einem Urteil von 2021 als illegal berufen angesehen.

Wie kann sich die Zivilgesellschaft wehren, wenn die PiS den Weg über Gerichte versperrt?

Da Polen noch keine vollständige Diktatur ist, bleiben immer noch Möglichkeiten. Ich spreche in diesem Zusammenhang von einer Demokratur, weil es Elemente von beidem hat: Demokratie und Diktatur. Einige Gerichte sind noch unabhängig und fällen Urteile, die nicht im Sinne der PiS sind. Die Richter müssen aber dann damit rechnen, von der PiS und den von ihr vereinnahmten Institutionen mit Disziplinarverfahren und Kürzung von Besoldung schikaniert zu werden. Und auch bei den Wahlen bleibt nach wie vor die Möglichkeit, die PiS zu besiegen.

Wie kann das gelingen?

Dafür sind vor allem zwei Aspekte entscheidend. Erstens braucht es eine hohe Wahlbeteiligung und zweitens eine möglichst vereinigte Opposition, vorzugsweise mit einer Einheitsliste. Das hat zum Beispiel in Tschechien gut funktioniert, wo die Opposition den populistischen Milliardär und Medienunternehmer Andrej Babiš mit zwei Listen bei den Parlamentswahlen 2021 besiegen konnte. In Polen ist das aber nur zum Teil gelungen.

Inwiefern?

Es gibt zwei Kammern im Parlament, den Senat und den Sejm. Der Senat ist weniger mächtig und kann nur die Gesetzgebung verzögern, aber nicht blockieren. Hier gibt es eine Vereinbarung der Opposition, in jedem Wahlbezirk nur einen Kandidaten der demokratischen Opposition antreten zu lassen. Im wichtigeren Sejm hingegen tritt neben der liberal-konservativen KO, angeführt von Donald Tusk (Bürgerkoalition, u.a. mit PO und Grünen), auch das neue konservative Bündnis Dritter Weg und die linke Lewica getrennt an. Das schwächt die Chancen der Opposition.

Trotzdem sieht es in Umfragen im Moment so aus, als würde es nicht für eine absolute Mehrheit für die PiS reichen.

Es kommt auch darauf an, ob die kleinen Bündnisse es überhaupt ins Parlament schaffen. Für Wahlbündnisse wie Dritter Weg oder Lewica gilt in Polen die Acht-Prozent-Hürde. Wenn diese verfehlt wird, verteilen sich deren Stimmen auf die stärksten Parteien und damit hauptsächlich auf die PiS, die wahrscheinlich die größte Parlamentsfraktion stellen wird. Dann könnte die PiS selbst mit nur 37-38 Prozent Stimmen möglicherweise wieder allein die Regierung bilden.

Falls es der PiS nicht zur absoluten Mehrheit reichen sollte, käme eine Partei ins Spiel, die Sie bis jetzt noch gar nicht erwähnt haben: die rechtsextreme Konfederacja. Halten Sie ein Bündnis der PiS mit den Rechtsextremen für möglich?

Ich vermute, dass sich die PiS auf eine formelle Koalition mit dieser Partei nicht einlässt, denn die Konfederacja ist nicht nur rechtsradikal, sondern auch pro-Kreml. Manche Politiker der Konfederacja haben sehr problematische Verflechtungen mit Moskau. Die PiS wird etwas anderes versuchen: Und zwar einzelne Abgeordnete der Konfederacja zu überzeugen mit ihr zu stimmen, z.B. indem sie sie mit Ämtern oder hohen Positionen in Staatsunternehmen besticht.

Auch der PiS selbst wird Korruption vorgeworfen. Vor kurzem wurde bekannt, dass das von der PiS geleitete Außenministerium hunderte Arbeitsvisa an Arbeitsmigranten verkauft haben soll, um sich selbst zu bereichern. Kann das der PiS schaden, die ja sonst öffentlich dafür eintritt, dass möglichst wenige Migranten ins Land kommen?

Das ist wirklich ein schlimmer Fall von systemischer Korruption, bei der jahrelang Menschen aus Afrika und Asien ausgebeutet worden sind. Das hat Ausmaße angenommen, die ich mir nicht hätte vorstellen können. Die Art und Weise, wie staatliche Behörden benutzt wurden, um eine bestimmte Gruppe zu bereichern, hat etwas von einem Mafia-Staat. Die PiS stellt aber die Visa-Affäre in den Staatsmedien aktuell so dar, als sei nicht sie, sondern der Opposition dafür verantwortlich. Und viele, insbesondere ältere Menschen mit geringer Bildung, werden das glauben, da sie keine andere Informationsquelle als das Propaganda-Fernsehen der PiS haben.

Zum Experten: Ireneusz Pawel Karolewski ist Professor für Politische Theorie und Demokratieforschung an der Uni Leipzig. Er war zuvor Professor für Politikwissenschaft an der Universität Breslau in Polen. 2022 schrieb er gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Claus Leggewie das Buch "Die Visegrád-Connection", in dem die jüngste politische Entwicklung in Polen und den anderen Visegrád-Staaten analysiert wird.
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