- Muss der Wähler bei der Bundestagswahl bald drei Kreuzchen machen? Mit dem Vorschlag der Ampel bekäme ein Wahlberechtigter zusätzlich zur Erst- und Zweitstimme noch eine Ersatzstimme hinzu.
- Dadurch würde der XXL-Bundestag um dutzende Mandate schrumpfen. Der Union käme das teuer zu stehen – der Fiskus aber würde Millionen sparen.
Größer als das Europaparlament und nach dem Chinesischen Volkskongress die zweitgrößte Volksvertretung – mit 736 Abgeordneten ist der Deutsche Bundestag zu einem XXL-Parlament angewachsen. Eigentlich sind nur 598 Abgeordnete vorgesehen, das komplizierte Wahlsystem mit Überhang- und Ausgleichsmandaten führt aber zu der historischen Rekordgröße.
Pläne, das zu ändern, gibt es schon länger. Seit Jahren aber wird debattiert, wie genau der Bundestag wieder schrumpfen könnte. Denn das übergroße Parlament kostet den Fiskus inzwischen über eine Milliarde Euro.
Ampel legt Vorschlag vor
Nun hat die Ampel-Koalition einen Vorschlag vorgelegt. Kurz erklärt: Nach dem Papier der Abgeordneten Sebastian Hartmann (SPD), Konstantin Kuhle (FDP) und Till Steffen (Grüne) soll der Bundestag künftig auf 598 Abgeordnete gedeckelt sein – ohne Ausnahme. Auch die Zahl der 299 Wahlkreise will man beibehalten.
Funktionieren soll das mit einem Kappungsmodell. Statt zwei Kreuzchen sollen die Wähler drei Stimmen haben. Zur Erst- und Zweitstimme soll eine sogenannte Ersatzstimme hinzukommen. Damit soll der zweitliebste Vertreter des Wahlkreises gewählt werden, der in den Bundestag einziehen soll. Das käme dann zum Tragen, wenn der Wahlkreisgewinner kein Mandat bekäme, weil seiner Partei über das Zweitstimmenergebnis weniger Direktmandate zustehen.
Drittes Kreuz: Ersatzstimme
Wenn eine Partei also mehr Wahlkreise gewinnt, als das Ergebnis der Zweitstimmen vorgibt, bekommt sie für die Wahlkreise, in denen ihre Erststimmenergebnisse am schwächsten sind, die Direktmandate nicht. Sie gehen an einen anderen Kandidaten – und den bestimmen die Wähler mit der Ersatzstimme.
Ökonom Robert Vehrkamp reagiert positiv auf den Vorstoß: "Mit dem Vorschlag wird in der jahrelangen Diskussion um eine nachhaltige Wahlrechtsreform ein neuer Maßstab gesetzt", sagt er. Der Vorschlag sei als Gesprächsangebot vorgetragen und ein mutiger Schritt.
Unterschiedliche Bewertungen
"Die wesentlichen Probleme wären alle gelöst: Der Bundestag bliebe verlässlich bei seiner Regelgröße von 598 Abgeordneten, jeweils 299 direkt und über die Liste gewählt, der Parteien- und Föderalproporz bliebe bestmöglich gewahrt und auch die Wahlkreise könnten bleiben, wie sie sind", erinnert er. Damit wäre viel erreicht, und jede Kritik an dem Vorschlag und alle Alternativen dazu müssten sich daran messen lassen.
Wahlrechts-Experte Christian Hesse ist hingegen skeptisch. "Der Ampel-Vorschlag enthält erhebliche Mängel und ist dadurch eine Fehlkonstruktion", urteilt er. Durch die Möglichkeit, dass nicht jeder Wahlkreissieger in den Bundestag einziehe, sondern bisweilen auch der Zweit- oder Drittplatzierte, werde das Demokratie-Prinzip ausgehöhlt.
Verfassungsrechtliche Bedenken
"Somit ist der Vorschlag auch verfassungsrechtlich zweifelhaft", sagt er. Durch die Einführung von Ersatzstimmen würde ein ohnehin schon für viele Menschen undurchdringliches Wahlrechtssystem noch mehr verkompliziert.
Die Notwendigkeit, das Wahlrecht zu reformieren, sieht aber auch Hesse. "Ein so großer Bundestag führt nicht nur zu Raumnot bei den Parlamentariern und ihren Teams, sondern ist auch eine erhebliche Belastung für die Steuerzahler", erinnert der Experte.
200 Millionen Euro einsparen
Für die zusätzlichen Abgeordneten fielen Bezüge, steuerfreie Pauschalen, Kosten für Mitarbeiter, Reisekosten, Fahrdienste und weitere Ausgaben an. "Nach meinen Berechnungen belasten diese 138 zusätzlichen Abgeordneten die Steuerzahler jährlich um etwa 200 Millionen Euro", sagt Hesse.
Dieses Argument führt auch der "Bund deutscher Steuerzahler" ins Feld. "Die stetige Entwicklung hin zu mehr Mandaten bedeutet weniger Redezeit, engere Platzverhältnisse, Sitzungen bis in die Morgenstunden, eine Behinderung der Arbeit in den Fachausschüssen – und nicht zuletzt auch mehr Geld", heißt es in einer Mitteilung des Vereins.
Kritik von der Union
Die Gesamtkosten des Bundestags würden noch in diesem Jahr die Marke von 1,1 Milliarden Euro knacken. Aus Sicht des Vereins wäre eine Größe von 500 Abgeordneten ausreichend. SPD, Grüne und FDP hatten im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass sie das Wahlrecht überarbeiten wollen. In der Großen Koalition waren die Reformanläufe zuvor gescheitert.
Die Union übte nun heftige Kritik an dem Vorschlag. Kein Wunder: Ihr käme die Reform am teuersten zu stehen. Sie müsste künftig auf ihre Überhangmandate verzichten, die sie wegen ihrer guten Erststimmenergebnisse häufig einfährt. In den Großstädten kommt die Union allerdings üblicherweise auf schlechtere Erststimmen-Ergebnisse als im ländlichen Raum. Heißt: In den Städten würden die Direktkandidaten der Union wohl häufig den Kürzeren ziehen.
Gegenvorschlag des Experten
Die Ampel kann ihren Vorschlag im Bundestag allerdings mit einfacher Mehrheit durchsetzen, eine Änderung der Verfassung braucht es nicht. Debatte ist also schon vorprogrammiert. Experte Hesse hält derweil ein Modell für sinnvoller, bei dem die Wahlkreise von 299 auf 270 verringert werden, im politischen Berlin als Hesse-Modell bezeichnet.
"Aus zehn Wahlkreisen müssten also neun gemacht werden", sagt er. Die Überhangmandate sollten dabei aus seiner Sicht zwar nach wie vor ausgeglichen werden, es würden aber nur sehr wenige anfallen. "Das führt zu einem für alle Parteien fairen Wahlrecht bei minimalinvasivem Eingriff, der die Bundestagsgröße stark verringert hätte", meint Hesse.
Verwendete Quellen:
- Bund deutscher Steuerzahler: "Schluss mit dem XXL-Bundestag!" 18.05.2022
- Redaktionsnetzwerk Deutschland: Viele Ansätze zur Wahlrechtsreform: Wer was vorschlägt. 25.08.2020
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