- In der Ukraine herrscht Krieg, die EU bemüht sich angesichts der dramatischen Lage um Einigkeit. Bei Waffenlieferungen und Sanktionen gegen Russland hat sie eine gemeinsame Sprache gefunden – doch die Streitigkeiten im Inneren um die Rechtsstaatlichkeit sind nicht beigelegt.
- Im Fokus dabei: Die Mitgliedstaaten Polen und Ungarn, die derzeit ein ganz anderes Gesicht zeigen. Die Politikexpertin Angelika Nußberger analysiert die schwierige Lage der EU.
Es sind Meldungen, die scheinbar untergegangen sind: Schlagzeilen wie "EU-Parlament fordert Verfahren gegen Ungarn und Polen" oder "Orban verlangt von der EU Freigabe der blockierten Coronahilfen" hätten unter anderen Umständen sicherlich für mehr Furore gesorgt.
Doch in der Ukraine herrscht Krieg – und hier zeigen die osteuropäischen Mitgliedsstaaten ein ganz anderes Gesicht. Mit der Aufnahme von Millionen Kriegsflüchtlingen rücken die Probleme der Rechtsstaatlichkeit in den Hintergrund.
Lesen Sie auch: Alle aktuellen Informationen zum Krieg in der Ukraine im Live-Ticker
EU in schwieriger Lage
Die EU selbst bringt das in eine schwierige Lage: Soll sie das Gesicht der Einigkeit wahren, Polen und Ungarn sogar finanziell stärker unter die Arme greifen? Oder muss die EU-Kommission so schnell wie möglich den Rechtsstaatsmechanismus aktivieren und weitere Zahlungen aus dem EU-Haushalt blockieren?
Von allen EU- und Nato-Staaten ist Polen am stärksten vom Krieg in der Ukraine betroffen. Nicht nur, weil unmittelbar an der Grenze Raketen einschlagen, sondern vor allem, weil Polen das Aufnahmeland Nummer 1 für ukrainische Kriegsflüchtlinge ist. Laut dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR sind seit Kriegsbeginn rund 3,7 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Mehr als 2,2 Millionen sind davon nach Polen geflüchtet.
Rechtsstaatsmechanismus gefordert
Aber: Polen und Ungarn stehen seit Jahren in der Kritik, sich die Justiz untertan zu machen und Teile der europäischen Rechtsprechung zu missachten. Seit Anfang 2021 hat die EU mit dem Rechtsstaatsmechanismus ein Mittel geschaffen, um dagegen vorzugehen.
In einer Mitteilung des EU-Parlaments hatte es zuletzt geheißen: "Das Parlament betont, dass es 'höchste Zeit' für die Kommission ist, ihren Pflichten als Hüterin der EU-Verträge nachzukommen und auf die anhaltenden Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedsstaaten zu reagieren." "Ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen würde deplatziert wirken", sagen nun aber die einen. "Die polnische Regierung missbraucht die Flüchtlingskrise", sagen die anderen.
Probleme nur überschattet
Angelika Nußberger ist Rechtswissenschaftlerin und Slavistin. Bis 2019 war sie Vizepräsidentin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie betont: "Derzeit wird natürlich der Krieg in der Ukraine, die Situation in den Grenzstaaten und die eigene Bedrohungssituation priorisiert. Das bedeutet aber nicht, dass die anderen Probleme nicht mehr existieren."
Auch, wenn bei einer äußeren Bedrohung innere Streitigkeiten an Relevanz verlieren würden, gelte: "Die Frage der Rechtsstaatlichkeit betrifft die Grundlagen des Zusammenhalts der EU. Es ist kein Thema, bei dem man unterschiedliche Auffassungen haben kann, es ist das Fundament, auf dem der Staatenverbund aufbaut".
Faktor in Putins Kalkulation
Gleichzeitig hält sie es für ein bedeutendes Momentum, dass die EU derzeit bei Fragen wie Sanktionen gegenüber Russland und Waffenlieferungen in die Ukraine eine gemeinsame Sprache gefunden hat.
"Das Signal ist: Wenn es drauf ankommt, steht man zusammen", sagt Nußberger. Putin sei sicherlich davon ausgegangen, dass die EU uneiniger sein werde – und habe das als Faktor in seine Kalkulation einbezogen. "Die EU hat schließlich in den letzten Monaten vor dem Krieg das Bild eines Dauerstreits abgegeben", erinnert Nußberger.
Schindet die EU-Kommission Zeit?
Dass hinter der Tatsache, dass der Rechtsstaatsmechanismus bislang noch nicht zur Anwendung gekommen ist, Zeitschinderei steckt, um dieses Bild der Einigkeit nicht zu beschädigen, glaubt Nußberger aber nicht. Polen und Ungarn hatten beim Europäischen Gerichtshof im vergangenen Jahr Klage eingereicht.
Im Februar wies der EuGH die Beschwerden zurück. "Es war sinnvoll, diese rechtliche Überprüfung abzuwarten – um nicht ergriffene Maßnahmen wieder kassieren zu müssen", meint Nußberger.
Orbán: Mittel wieder freigeben
Auch jetzt müssten noch Detailregelungen ausgearbeitet werden, sodass eine kurzfristige Anwendung unwahrscheinlich sei. "Es ist ein Mechanismus zur Sicherung des Budgets, es müssen unmittelbare Einwirkungen durch die Rechtsstaatsprobleme auf die Verwendung der Gelder vorliegen", erinnert Nußberger.
Die EU hat aber Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds seit Monaten bereits suspendiert. Polen und Ungarn gehören zu den größten Nettoempfängern unter den Mitgliedstaaten. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat die EU-Kommission nun aufgefordert, die für Ungarn vorgesehenen, aber blockierten Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds freizugeben.
Problematisches Urteil ergangen
"Der Krieg in der Ukraine stellt für die (EU-)Mitgliedsstaaten eine präzedenzlose Herausforderung dar" so Orbán in seinem Schreiben. Auch in Polen betonten Regierungsmitglieder und Abgeordnete der PiS-Partei bereits mehrfach, wie unmoralisch es von der EU sei, ihr von Krieg und Migration gebeuteltes Land mit Sanktionen wegen angeblicher Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zu belegen.
Die Aufhebung der Blockade hält Nußberger aber für ein kontraproduktives Signal. Denn trotz Kriegssituation seien gerade in Polen weitere problematische Schritte erfolgt. "Es hat ein problematisches Urteil des Verfassungsgerichts gegeben: Das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention wurde vom polnischen Verfassungsgericht am 10. März für nicht vereinbar mit der polnischen Verfassung erklärt", so die Expertin.
In den russischen Fußstapfen?
Diese Entscheidung falle zeitlich mit dem Ausschluss Russlands aus dem Europarat am 16. März zusammen. Nicht unbedeutend: "Russland war vor Polen der einzige Staat, der einzelne Urteile als nicht vereinbar mit der Verfassung bezeichnet hat. Polen ist hier in die Fußstapfen von Russland getreten", so Nußberger.
Außerdem habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einstweilige Anordnungen erlassen, weil Polens Disziplinarkammer weitere Maßnahmen gegen für sie unliebsame Richter durchzusetzen wollte. Die umstrittene Disziplinarkammer kann Richter bestrafen und entlassen und steht im Zentrum der polnischen Justizreform.
Eine Lappalie in Kriegslage?
"Es bleibt ein Hauptproblem, dass bereits viele Richter suspendiert oder entlassen worden sind und es ist ein Desiderat, dass sie ihre Posten nach Möglichkeit zurückbekommen", sagt Nußberger. Wenn Polen seine Bereitschaft erkläre, die umstrittene Disziplinarkammer abzuschaffen, müsse man auf der Hut sein: "Es kann auch sein, dass sie einfach durch ein mit einem anderen Namen versehenes Gremium mit derselben Funktion ersetzt wird", warnt Nußberger.
Die Verfolgung unbequemer Richter, Verstöße gegen Urteile des EUGH und des Menschenrechtsgerichtshofs – Lappalien angesichts von Krieg und Migrationskrise? "Nein", sagt Nußberger. Und die Gerichte machten das auch deutlich: "Wenn mit Eilentscheidungen agiert und in beschleunigten Verfahren entschieden wird, heißt das klar: Es muss schnell das Stoppschild hochgehoben werden – trotz Kriegssituation", sagt Nußberger.
Verwendete Quellen:
- Europäisches Parlament: Rechtsstaatlichkeits-Konditionalität: Kommission muss sofort Verfahren einleiten
- Handelsblatt: Ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen würde deplatziert wirken
- Berliner Zeitung: Die polnische Regierung missbraucht die Flüchtlingskrise
- Mediendienst-Integration: Flüchtlinge aus der Ukraine
- Viktor Orbáns Schreiben an die EU
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.