Der Politikwissenschaftler Werner Patzelt sieht in einer starken AfD nicht die größte Gefahr für die Demokratie. Im Interview mit unserer Redaktion ergründet er den Aufstieg der Partei und sagt, was das für die Ost-Landtagswahlen im kommenden Jahr bedeutet.
Werner Patzelt weiß, wie der Osten tickt. Der Politologe hat fast drei Jahrzehnte lang an der Technischen Universität (TU) Dresden gelehrt und war einer der ersten Wissenschaftler in Deutschland, der die fremdenfeindliche Pegida-Bewegung erforscht hat. Wenn es in Sachsen gebrodelt hat, war Patzelt meist nicht fern.
Doch Patzelt ist nicht nur Forscher. Er sucht auch die öffentliche Debatte – und vertritt dabei mitunter strittige Thesen. In seiner Partei, der CDU, gehört der 70-Jährige dem konservativen Flügel an.
Patzelt findet, dass die Union zu sehr in die Mitte gerückt ist und dabei rechts den Platz gelassen hat, den die AfD jetzt einnimmt. Das könnte sich bei den Landtagswahlen im Osten im nächsten Jahr rächen. Patzelt empfiehlt seiner Partei, im Umgang mit der rechten Konkurrenz neue Wege zu gehen. Zeit für ein Gespräch.
Herr Professor Patzelt, in Ostdeutschland stehen im kommenden Jahr drei Landtagswahlen an. Was sagt es über den Zustand der Demokratie aus, wenn die AfD zweimal stärkste Kraft werden könnte?
Werner Patzelt: Es sagt vor allem darüber etwas aus, ob die Menschen den etablierten Parteien zutrauen, die Probleme unserer Gesellschaft zu lösen. Und die sind groß. Sie reichen von ungesteuerter Zuwanderung samt mangelhafter Integration bis hin zu einer Energiepolitik, die den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährdet.
Zugespitzt formuliert: Was unsere Demokratie bedroht, ist weniger das Erstarken der AfD. Es ist jene politische Pfuscherei, durch die unsere staatstragenden Parteien die AfD erst haben entstehen und groß werden lassen. Bei vielen Wählern herrscht der Eindruck: Die etablierten Parteien verweigern die Arbeit.
Und das tun sie aus Ihrer Sicht?
Tatsache ist, dass viele es so sehen, gerade im Osten. Hier gibt es eine nicht kleine Minderheit, die meint, dass sich unser Land in einer ähnlichen Lage befindet wie die späte DDR, der Zusammenbruch also bevorsteht. Sie glauben, das Land geht vor die Hunde, aber keiner traut sich, die Gründe zu benennen und die Probleme zu lösen. Ob es tatsächlich so schlimm ist, steht auf einem anderen Blatt. Wichtig ist aber, dass es diese Wahrnehmung gibt. Und dass sie viele dazu veranlasst, die AfD zu wählen.
Die Wahrnehmung muss ziemlich verzerrt sein, wenn man die Bundesrepublik mit der späten DDR gleichsetzt.
Natürlich ist die Situation in der späteren DDR nicht dieselbe wie in der jetzigen Bundesrepublik. Doch was sehr viele Leute meinen, es allerdings windschief ausdrücken, ist das Folgende: Auch die DDR-Führung hätte sehen können, dass ihre Wirtschaft strukturell nicht wettbewerbsfähig ist, und dass sich ein großer Teil der Bevölkerung den real existierenden Sozialismus nicht wirklich wünscht.
Und heute – das ist die wahrgenommene Parallele – wollen die etablierten Parteien nicht sehen, dass es bei vielen Themen, nicht nur bei Migration und Integration, massive Probleme gibt. Die Politik tut einfach so, als gäbe es die nicht und grenzt stattdessen die aus, die darauf aufmerksam machen. Wer das so wahrnimmt, der kehrt sich zunächst von den etablierten Parteien und Politikern ab und im schlimmsten Fall vom ganzen System – so wie einst in der DDR.
Politologe Patzelt: "Wählerschaft bekommt nicht mit, wie wenig praxistauglich viele AfD-Ideen sind"
Die AfD hat sich auf ihrem Parteitag am Wochenende – wenn auch verklausuliert – für ein Ende der EU ausgesprochen. Ihr Führungspersonal agiert immer extremer. Was ist daran für Wähler attraktiv?
Viele sind schlicht der Meinung, dass die AfD Dinge anspricht, die es wert sind, debattiert zu werden, von denen die anderen Parteien aber lieber die Finger lassen. Wenn etwa die AfD davon spricht, die jetzige EU solle durch ein „Europa der Vaterländer“ ersetzt werden, dann empfinden viele volle Zustimmung: Man sollte doch wirklich davon abkommen, dass von Brüssel immer wieder Politik gemacht und dann auch in den EU-Staaten durchgesetzt wird, für die es im eigenen Land gar keine mehrheitliche Zustimmung gibt. Dass oft als schlechter Europäer hingestellt wird, wer diese Beobachtung teilt und für eine Fehlentwicklung hält, nährt dann mehr und mehr Ressentiments gegen die EU. Genau diese Ressentiments und deren Ursachen adressiert die AfD.
Doch solange man – wie in der Vergangenheit – über AfD-Forderungen nicht wirklich diskutiert, bekommt die Wählerschaft auch nicht mit, wie wenig praxistauglich viele AfD-Ideen selbst dann sind, wenn sie sich auf reale – und nicht bloß eingebildete – Probleme beziehen.
Schon der Begriff „Europa der Vaterländer“ ist schwierig. Er ist vor allem in rechtsextremen Kreisen beliebt.
Ja. Doch es lohnt sich, die Sache auch von einer anderen Seite zu betrachten. Es gilt inzwischen fast jeder als rechtsextremer Nationalist, der bestreitet, Europa müsse immer enger zusammenwachsen, oder Brüssel brauche noch mehr Kompetenzen.
Dabei zeigt sich doch in der so dringlichen Migrationspolitik, dass es gerade nicht die EU ist, die die unkontrollierte Zuwanderung bremst. Es sind die Nationalstaaten, allen voran Dänemark und Schweden, die das Problem anpacken. Die Faustregel ist jedenfalls falsch, dass etwas schon dann rechtsradikal ist, wenn es die AfD vorbringt.
Patzelt: "Es gab keine Auseinandersetzung mit der AfD"
Was ist aus Ihrer Sicht der größte Fehler im Umgang mit der AfD?
Dass man von Anfang an lieber über sie statt mit ihr gesprochen hat. Miteinander zu sprechen, heißt doch nicht, dem anderen eine Bühne zur ungestörten Selbstdarstellung zu bieten, denn man stellt ja immer auch seinen eigenen Gegenstandpunkt dar. Beim politischen Gespräch geht es also darum, die Argumente des anderen zu hinterfragen, sie zu kritisieren und auseinanderzunehmen – idealerweise vor einem großen Publikum. Nur: Das ist nicht passiert.
Sondern?
Stattdessen hat man der AfD durch eigene Gesprächsverweigerung eine Art kommunikativen Schutzraum beschert, in dem die Partei sich dann bequem radikalisieren konnte. Jetzt rächt es sich, dass der Kampf gegen die AfD im Grunde nur darin bestand, dass man mit möglichst scharfen Worten sagte: Ihr seid rechts, ihr seid dumm, mit euch reden wir nicht.
Die heutige Höcke-AfD ist nicht die AfD des Parteigründers und Wirtschaftsprofessors Bernd Lucke. Wie soll da Diskurs stattfinden?
Diese Frage beschreibt genau das Problem: Mit der Lucke-AfD, auch mit der AfD unter Frauke Petry, die bis 2017 an der Spitze stand, wäre ein Streit um die Sache noch möglich gewesen. Doch genau das unterblieb. Damals wurden die Weichen derart falsch gestellt, dass wir uns heute einer AfD gegenüberfinden, die sich radikalisiert hat und zum demagogischen Sprachrohr derer geworden ist, die – und zwar oft sogar mit diskutablen Gründen – vielerlei Zustände in unserem Land für schwer erträglich halten.
Und wie lässt sich eine solche AfD kleinbekommen?
Von außen wohl gar nicht mehr. Tatsächlich ist die AfD so stark geworden, dass sie sich im Grunde nur noch selbst besiegen kann. Das könnte dadurch passieren, dass ihre Rhetorik noch schriller wird und sie so potenzielle Wähler abschreckt. Oder durch eine inhaltliche Radikalisierung, die ein aussichtsreiches Parteiverbotsverfahren möglich macht.
Doch so weit sind wir noch nicht. Daher zunächst ein Gedankenspiel: Was würde wohl passieren, wenn die AfD bei einer der nächsten Landtagswahlen stärkste Kraft werden sollte und anschließend eine Fast-Allparteien-Koalition, womöglich von der CDU bis zur Linken, gegen sie gebildet werden würde – wer würde davon profitieren?
Jedenfalls würde es den bislang staatstragenden Parteien schaden, wenn ein unliebsamer AfD-Erfolg dazu führt, dass vom ungeschriebenen parlamentarischen Brauch – die stärkste Partei versucht, eine Regierung aus halbwegs zusammenpassenden Partnern zu bilden – abgewichen wird. Da zeigt sich: Die jahrelang falsch geführte Auseinandersetzung mit der AfD führt in eine politische Sackgasse, im schlimmsten Fall in eine institutionelle Krise.
Was würden Sie Ihrer Partei, der CDU, in dieser Situation raten?
Ich erlebe die CDU seit Jahren als beratungsresistent. Doch um nicht zu kneifen, sage ich Folgendes: Wenn die Union nicht weiter wie ein schreckgelähmtes Kaninchen auf die Schlange namens AfD starren will, dann muss sie endlich die politische Initiative ergreifen.
Und das geht nicht in permanenter Abgrenzung, sondern indem man Streit in die AfD hineinträgt, der ihre Mitglieder auseinandertreibt. Das gelänge womöglich mit folgender Formel: Die AfD wird nie allein, sondern immer nur gemeinsam mit der CDU politische Gestaltungskraft erlangen können. Doch ein solches Zusammenwirken kommt für die CDU nur dann infrage, wenn sich die AfD zuvor drei Forderungen erfüllt hat, nämlich Abstand von demagogischer Rhetorik, Aufgabe inakzeptabler politischer Forderungen, Trennung von üblen Anführern.
Es ist sehr unrealistisch, dass das passiert.
Natürlich ist es das. Weder wird die CDU den Mumm aufbringen, hier konkret zu werden, noch wird der extreme Flügel der AfD diese Forderungen erfüllen. Und doch wäre es sinnvoll, meinem Rat zu folgen. Die CDU käme so endlich in die Rolle eines Angreifers und würde spaltenden Streit in die AfD tragen.
Dort gibt es nämlich tatsächlich weiterhin Leute, die mit der Demagogie eines
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