Auf ihrem Gnadenhof in Niedersachsen gibt die Ärztin Usha Peters behinderten Hunden eine zweite Chance.

Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Steve Przybilla (RiffReporter). Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Klock, klock, klock. Ein harter Plastikball kullert über den Boden. Direkt dahinter: Shadow, ein lebhaft-verspielter Schäferhund, der den Ball immer wieder mit der Nase anstupst. So geht das eine gefühlte Ewigkeit. Shadow liebt seinen Ball, für alles andere hat er keine Augen. Was Shadow ebenfalls nicht hat, sind funktionierende Hinterbeine. Der Rüde, der etwa fünf bis sechs Jahre alt ist – so genau weiß man das nicht –, wurde mit einer Fehlbildung der Wirbelsäule geboren. Die Vorbesitzerin war überfordert, das Veterinäramt schritt ein.

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"Shadow stand kurz davor, euthanasiert zu werden", sagt Usha Peters, die zu seiner Retterin wurde. Die 57-jährige Humanmedizinerin betreibt einen Gnadenhof bei Soltau am Rande der Lüneburger Heide. Das Besondere: Von 97 Hunden, die hier leben, haben 26 einen Rollstuhl.

Der Hunde-Rollstuhl wird maßgefertigt

Hund mit Rollstuhl
Auf dem Hundehof leben mehr als 20 Hunde mit Rollstuhl. Hier zu sehen: Shadow, der Schäferhund. © Steve Przybilla

Da wäre zum Beispiel Vroni, ein Dackel-Bracken-Mischling, der aus Rumänien stammt. Vroni musste nach einem Autounfall ein Bein amputiert werden. Jetzt trabt sie fröhlich über den Hof. Ihre Hinterläufe hängen an einem Gurt, um nicht über den Boden zu schleifen. Der Gurt wiederum ist mit einem Metallgestell verbunden, an dem sich zwei Reifen befinden – der Hunde-Rollstuhl.

Oder Hope: Der weiße Mischling kam mit einem Wirbelsäulenbruch und einer Lähmung auf den Hof, ein Fundtier aus dem Ausland. Auch er rollert fröhlich durch die Gegend, immer auf der Suche nach dem nächstgelegenen Futternapf. Und natürlich Shadow, der Schäferhund. Wie auch die anderen 25 Hunde trägt er ein maßgefertigtes Rollstuhl-Modell, in diesem Fall bestehend aus gelben Reifen, bunten Speichen und einem roten Stoffband.

"Hunde grübeln nicht so sehr wie wir. Die meisten setzt man auf die Rollen und sie flitzen sofort los."

Usha Peters über Hunde mit Behinderung

Inspiration durch ihre eigene Hündin

"Hunde grübeln nicht so sehr wie wir", sagt Usha Peters. Es seien eher die Menschen, die sich mit Behinderungen schwertun. Seit sie im Jahr 2006 ihren "Hun'nenhoff" (Plattdeutsch für Hundehof) eröffnet hat, konnte sie unzähligen gehandicapten Vierbeinern helfen. "Die meisten setzt man auf die Rollen und sie flitzen sofort los", sagt Peters. Sie selbst kam durch ihre eigene Hündin auf das Thema. 2005 übernahm sie die Terrier-Dame Lia von einer Tierschutzorganisation.

Lia galt als schwer vermittelbar, weil ihr beide Hinterbeine fehlten. Tierärzte prophezeiten ihr einen frühen Tod. Am Ende wurde sie 14 Jahre alt und konnte dank ihres Rollstuhls ein beinahe normales Leben führen.

"Früher waren Rollstühle für Hunde total exotisch", sagt Peters – auch ein Grund, warum sie ihren "Hun'nenhoff" gegründet hat. Inzwischen habe eine Veränderung eingesetzt: Statt ihre Hunde abzugeben, versuchten immer mehr Menschen, die Behinderung zu akzeptieren und die Haustiere in ihren Alltag zu integrieren.

"Warum", fragt sie, "sollte man Tiere wegen so etwas einschläfern? Wenn sie sichtbar leiden, Schmerzen haben und nichts mehr fressen, ist das was anderes. Aber wenn sie fröhlich sind, verdienen sie eine zweite Chance."

Wie ein Tierheim, nur privat finanziert

Diese Chance bekommen sie in der Lüneburger Heide – mit Spielzeug, Auslaufflächen und beheizten Aufenthaltsräumen. Sogar ein therapeutisches Wasserlaufband gibt es, finanziert durch Spenden und Usha Peters' Privatvermögen.

Das 50.000 Quadratmeter große Gelände betreibt sie zusammen mit der Tier-Physiotherapeutin Saskia Wicke und dem Hundetrainer Tom Bode. Wicke soll den Hof einmal übernehmen, wenn Peters in den Ruhestand geht. "Dann rolle ich hier auch über den Hof", sagt die Gründerin und lacht.

Wobei der Begriff "Hof" definitiv eine Untertreibung ist: 26 Festangestellte und 30 Ehrenamtliche arbeiten inzwischen dort. Auch Katzen und Pferde, die als schwer vermittelbar gelten, verbringen ihren Lebensabend auf dem Gelände – Dimensionen wie in einem Tierheim, nur privat finanziert.

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Zusätzlich zu ihrem Engagement hat Usha Peters noch einen Hauptberuf, der sie fordert. Als Humangenetikerin leitet sie eine Praxis in Hamburg. Dreimal pro Woche pendelt sie in die Großstadt, abends kehrt sie auf den Hof zurück.

Dort lebt Peters in einem hölzernen Bauwagen, umgeben von einigen der vielen Hunde, die sie adoptiert hat. Ihr Heim wirkt einfach, aber gemütlich: eine kleine Terrasse mit Stühlen, viele Pflanzen, eine Mischung aus Tiny House und Dauercamping.

Beim Ausdrücken der Blase schläft eine Hündin ein

Die Tage auf dem Hof beginnen mit einer medizinischen Prozedur: Die Hunde, die sich wegen ihrer Lähmung nicht selbst lösen können, bekommen die Blase ausgedrückt. Es riecht streng, überall Gebell. Peters bleibt cool – auch dieser Teil der Arbeit gehört dazu. Manche Hunde tragen Windeln, andere haben einen Katheter. Hygiene ist wichtig. Dank Wundsalbe, Desinfektionsmitteln und Verbandsmaterial sieht es fast ein bisschen wie beim Tierarzt aus.

Die Hunde wiederum kennen den Ablauf. Geduldig lassen sie sich von Peters auf den Tisch heben. Eine Hündin schläft sogar ein, während Peters ihren Urinbeutel wechselt. Und dann: Fütterungszeit! Kaum hat eine Mitarbeiterin die Alu-Näpfe hervorgeholt, wird sie von hungrigen Hunden umringt.

"Manchmal geht es so stürmisch zu, dass sich die Rollstühle verhaken", erzählt Saskia Wicke, die Physiotherapeutin. "Da knallen die Gestelle auch gegen uns Menschen, da müssen wir schon aufpassen." In gebührendem Abstand stellt sie die Näpfe auf. So ungewohnt die Hunde mit ihren Rollstühlen auch aussehen: Nach ihrem Heißhunger zu urteilen, verhalten sie sich nicht anders als ihre Artgenossen mit vier funktionierenden Beinen.

Ebbie, eine Golden-Retriever-Dame, die an den Hinterläufen gelähmt ist, schiebt ihren Napf mit schlabbernder Zunge durch die Gegend. Er ist bereits leer, doch das stört Ebbie nicht. Könnte ja noch ein Krümel drin sein. Ebbies Verletzung rührt von einem Unfall in Berlin. Dort soll sie einen Hang heruntergestürzt sein. Dass die Hunde nicht mehr laufen können, hat durchaus verschiedene Ursachen. Mal sind Krankheiten schuld, mal sind die Tiere vors Auto gelaufen.

Hunde landen nach Unfällen oder Misshandlungen im Rollstuhl

Oft ist die Ursache auch unklar, vor allem, wenn die Hunde aus dem Ausland kommen. Das Team des Hundehofs vermutet, dass Tiermisshandlungen ebenfalls eine Rolle spielen. Nachweisen lässt sich das in der Regel nicht.

Schließlich trudelt Olaf Stolze ein. Der freiwillige Helfer engagiert sich als Gassigeher und Gärtner gleichermaßen. In einem Beet fällt ihm sofort eine welke Azalee auf: "Die schwächelt ein bisschen. Vielleicht liegt's am vielen Hundeurin."

Ohne die Hilfe der Ehrenamtlichen wäre der Hof nicht zu betreiben. Olaf Stolze kommt zweimal pro Woche, manchmal auch öfter. Er lacht: "Gegenüber meiner Frau darf ich den Hun'nenhoff nicht erwähnen. Dann wird sie sauer, weil ich ständig hier bin."

Warum er trotzdem so oft kommt? "Unser eigener Hund ist schon 15 Jahre alt", sagt Stolze. "Der läuft nicht mehr so viel." Obwohl er nur drei Kilometer vom Gnadenhof entfernt wohnt, ist er erst während der Pandemie auf ihn gestoßen. "Da habe ich überlegt, was ich meinen erwachsenen Kindern schenken kann."

Nach einer Hofbesichtigung entschied er sich für eine Patenschaft – und für eigenes Engagement. Einen neuen Hund werde er sich nach seinem jetzigen vermutlich nicht mehr anschaffen, sagt Stolze, woraufhin er von Usha Peters unterbrochen wird: "Darüber reden wir noch. Hier gibt's schließlich genug zur Auswahl."

Viele der Hunde gelten als schwer vermittelbar, auch wenn sie laufen können. Joey zum Beispiel. Das Veterinäramt hat den American-Staffordshire-Terrier beschlagnahmt, weil ihn sein Vorbesitzer an eine Heizung gekettet hatte. Nun ist er Fremden gegenüber erst mal misstrauisch.

Oder Kalle, ein reinrassiger Rottweiler. "Zum Bewachen bestens geeignet", heißt es auf der Homepage des Hundehofs. Aber: "Kalle ist futteraggressiv und daher nicht ganz einfach." Hinzu kommen Hunde, die zu alt für ein neues Zuhause sind oder nur schwer eine Bindung aufbauen können, weil sie misshandelt wurden.

So wie Hiswa: Der großen Mischlingshündin hat jemand mit dem Daumen das Auge eingedrückt. Auf dem weitläufigen Gelände blüht sie wieder auf, lässt sich von Besuchern sogar streicheln, wenn Usha Peters dabei ist.

"Rolliday Inn" – eine Tierpension für Rollstuhl-Hunde

Auch in diesem Bereich können Ehrenamtliche aktiv werden: "Neben Gassigehern suchen wir auch Leute, die mit älteren Hunden kuscheln oder sie bürsten", sagt Usha Peters. Wer seine Zeit lieber mit größeren Tieren verbringen möchte, könne auch Pferde spazieren führen.

Aktuell ist der "Hun'nenhoff" voll belegt. Usha Peters würde gerne noch mehr Hunde aufnehmen. "Aber wir müssen eine gewisse Qualität wahren", sagt sie. "Bei zu vielen Tieren wäre das einfach nicht gewährleistet." Kurzzeitig abgeben kann man Tiere allerdings schon, und zwar im "Rolliday Inn". Dabei handelt es sich um ein Hotel speziell für Rollstuhl-Hunde. "Die meisten Tierpensionen nehmen Hunde mit Behinderungen nicht auf", sagt Usha Peters. "Für sie bieten wir eine Alternative." Und Expertise: Medizinische Behandlungen und Pflege sind im Preis inbegriffen.

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Verwendete Quellen

Frauchen mit ihrem Hund

Mit Audio-Tasten: Frau bringt ihrem Hund das "Sprechen" bei

Christina Lee aus San Francisco im US-Bundesstaat Kalifornien hat ihrem Hund das "Sprechen" beigebracht. Der Vierbeiner kommuniziert mithilfe von 130 Audio-Tasten.

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