Einmal mit einem Esel ans Meer wandern – davon hat Lotta Lubkoll schon als Kind geträumt. Doch erst nach einem Schicksalsschlag dachte sie wieder daran. Diesmal nutzte sie ihre Chance. Aus dem Traum wurden drei Monate, die ihr Leben veränderten. pferde.de sprach mit der 29-Jährigen über die Entdeckung der Langsamkeit, wie eine Begegnung neue Wünsche wecken kann und warum Esel Jonny mehr ist, als ein Wanderfreund auf vier Hufen.
Sie war zehn Jahre alt, als sie den Animationsfilm "Shrek" sah – und sich sofort verliebte. Nicht in den Helden des Films. Nein, Lotta Lubkolls Herz schlug für Esel, Shreks treuen und redseligen Gefährten. "Ich war schon damals überzeugt, dass Esel ein falsches Image haben. Sie sind nicht stur oder dumm – sie sind klug und witzig." Sie wusste genau, was sie einmal machen will, wenn sie groß ist: Mit einem Esel auf Wanderschaft gehen.
Dabei kannte sie zu dieser Zeit keinen "echten" Esel, dafür aber Pferde. "Meine Tante hatte ein Pferd, ich saß schon darauf, bevor ich laufen konnte", erzählt Lubkoll lachend. Als Kind hatte sie auch Reit- und Voltigierunterricht, aber der Funke sprang nie wirklich über. "Auf einem Pferd sitzen, das war nie so hundertprozentig mein Ding. Ich fand es spannender, wenn Pferdebesitzer zum Beispiel Freiheitsdressur gemacht haben. Da ist man auf einer Augenhöhe, das hat mich fasziniert", erinnert sich die 29-Jährige.
Esel? Davon hatte Lotta damals keine Ahnung
Ausprobiert hat sie es nicht. Andere Dinge wurden wichtiger. Als sie dann 2014 nach München zog und dort zur Schauspielschule ging, verschwanden Pferde ganz aus ihrem Leben. Auch ihren Kindheits-Traum hatte sie fast vergessen. Doch dann erkrankte ihr Vater an Krebs und starb wenige Monate später. Für Lubkoll geriet ihr Leben aus den Fugen. Sie verlor nicht nur ihren geliebten Vater, sie entwickelte dadurch plötzlich auch Ängste, traute sich nachts nicht mehr durch ihre eigene Wohnung zu gehen. "Das war der Moment, an dem ich begriff: Ich muss was ändern. Mir wurde durch meinen Papa klar, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Und wie wichtig es ist, jeden Tag, jede Minute und jeden Moment zu genießen und dankbar für die Zeit zu sein, die ich habe", sagt sie.
Sie dachte an ihren Vater, der davon geträumt hatte, mit einem Zirkuswagen und einem Traktor durch die Welt zu reisen – später, wenn er in Rente gewesen wäre, und es nun nicht mehr konnte. So fiel Lubkoll ihr eigener Traum wieder ein. "Jetzt wollte ich ihn verwirklichen. Und damit wenigstens für eine kurze Zeit aus diesem ‚immer-höher-schneller-und-weiter-Leben‘ raus." So beginnt sie mit den Vorbereitungen. "Ich hatte ja keine Ahnung von Eseln. Also las ich viel über die Haltung, die Herkunft, das Verhalten und die Erziehung von Eseln. Ich knüpfte Kontakte zu anderen Eselhaltern, die mir ihre Hilfe anboten. Über ebay-Kleinanzeigen suchte ich einen Einstellplatz und wurde schnell fündig", erzählt Lubkoll.
Jonny war die Liebe auf den ersten Blick
Jetzt fehlte nur noch das passende Langohr. Lubkoll fand ihren Partner auf vier Hufen dann auf Umwegen. "Ich war bei einer Frau und guckte mir ihren Esel an. Aber der war zu jung für so eine Tour. Da durchsuchte sie für mich Kleinanzeigen und entdeckte ‚Esel zu verkaufen‘. Ich rief an und da der Hof, wo er stand, auf meinem Weg nach Hause lag, fuhr ich direkt hin." Zum Glück, denn als Jonny vor ihr stand, war es Liebe auf den ersten Blick. "Ich sagte zwar, dass ich noch eine Nacht darüber schlafen wollte. Aber ich war so aufgeregt, dass ich kaum schlafen konnte", sagt Lubkoll.
Am nächsten Tag rief sie bei Johnny Hof an. "Und dann wollten die Besitzer ihn plötzlich nicht mehr verkaufen. Ich hab‘ weinend um ihn gekämpft", erinnert sich Lubkoll. Mit Erfolg: Eine Woche später war Jonny bei ihr, damals 15 Jahre alt, 1,11 Meter Stockmaß, 187 Kilo schwer. In den nächsten Monaten trainierte sie mit ihm, wanderte schließlich oft stundenlang mit ihm.
Jonny hat seine eigene Meinung – und will überzeugt werden
Am 9. Juni 2018 war es so weit: Ihre Reise Richtung Süden begann. Ihr Ziel: Das Mittelmeer – wenn alles klappen würde. Denn Lubkoll war von Anfang an klar: Auf dieser Reise könne jeder Tag eine Überraschung sein. "Wäre ich alleine gegangen, hätte ich spätestens nach ein paar Tagen angefangen, alles zu planen. Doch genau das wollte ich nicht. Ich wollte immer den Augenblick genießen." Dabei, das gibt sie zu, gab es auch Momente, wo sie ans Aufgeben dachte – weil die Füße wehtaten, kein Schlafplatz in Sicht war oder Jonny plötzlich vor einem Hindernis stand und nicht weiter wollte.
Doch ihre Neugier trieb sie weiter. – Und der Wille, mit Jonny alle Probleme lösen zu können. "Ich musste mich auf ihn einstellen und er sich auf mich. Denn vor allem am Anfang war es so: Alles, was ich sage, hat Jonny erst einmal als Vorschlag angesehen und dann selbst entschieden", sagt Lubkoll und führt fort: "Wenn ich sagte, die Brücke ist okay, dann ist er mir nicht blind gefolgt. Er fand die Brücke nicht vertrauenswürdig. Da brauchte ich viel Zeit, um ihn zu überzeugen und Schritt für Schritt sein Vertrauen zu gewinnen." Es habe durchaus auch Situationen gegeben, in denen "er mir auf liebenswürdige, aber unverhandelbare Weise gelehrt hat, dass er anderer Meinung ist", so die Abenteurerin.
"Er bewies mir, dass ich mir keine Sorgen machen brauchte"
Dabei habe es auch Ereignisse gegeben, bei denen sie ihren Jonny unterschätzte. "Zum Beispiel gab es Passagen am Reschenpass, von denen ich mir nicht sicher war, ob Jonny die schaffen würde. Es war so eng und steil und echt gefährlich", blickt Lubkoll zurück. "Doch während ich Jonny oben stehen ließ und mich zuerst alleine vorsichtig den steilen Abhang hinunter tastete, weil der Weg abgerutscht war, folgte er mir ganz selbstständig. Er bewies mir, dass ich mir keine Sorgen machen brauchte und mein kleiner Esel mehr draufhatte, als ich glaubte", schildert sie die Situation.
Mit jedem Tag fanden Lubkoll und Jonny mehr zueinander. Außerdem entwickelten die beiden ein gemeinsames Tempo, wanderten im Schnitt mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 3 Kilometern pro Stunde. "An 46 Tagen sind wir gewandert, immer 10 bis 15 Kilometer am Tag." Das Gepäck habe sie dabei fair aufgeteilt: "Jeder von uns hat maximal 20 Prozent seines Körpergewichts getragen. Jonny hatte höchstens 30 Kilo, wenn die Wasserkanister ganz voll waren, ich 10 Kilo." Mit jedem Tag lernte die junge Frau, mehr im Hier und Jetzt zu leben.
Allein? "Ich hatte doch Jonny"
Deshalb blieb sie dort, wo es ihr gefiel: Zum Beispiel in der Nähe des Reschenpasses, als sie in einem Tipi-Dorf landete. Es entpuppte sich als "Natur- und Wildnisschule". Neugierig blieb Lubkoll für fast zwei Wochen. Dort lernte sie, Feuer nur mit Holzreibung oder Spindel und Bogendrill zu machen und Schnüre aus Brennnesseln zu drehen. Diese Wochen zeigten ihr: Ein Leben in und mit der Natur ist auch ohne Wanderung möglich.
Nach den zwei Wochen wanderten Jonny und sie weiter. Hat sie sich jemals allein gefühlt? "Ich war manchmal echt am Ende meiner Kraft, aber allein war ich nie. Ich hatte doch Jonny", sagt die Wanderin. Durch ihn sei sie auch immer mit anderen Menschen ins Gespräch gekommen: "Viele wollten ein Foto von ihm machen. Und durch die offene und freundliche Art der Menschen, hatten wir auch selten Probleme, einen Schlafplatz zu finden. Wir schliefen auf Feldern von Bauern, auf Pferde- oder Eselhöfen, mitten in der Pampa im Nirgendwo oder in privaten Gärten von Familien." Einmal teilte sie sich mit Jonny einen Kuhstall, mal schlief sie neben Gänsen.
In Italien macht Jonny alleine eine Wanderung
Unvergesslich sei auch die Familie, die Jonny ebenfalls ins Haus einlud. "Neugierig stolzierte er wie der kleine Onkel von Pippi Langstrumpf durch Wohnzimmer und Küche. Und einmal durften wir bei einer Familie am Kalterer See zwei Nächte verbringen. Jonny war das Highlight für die zehn Kinder der großen Familie und wir hatten einen privaten Steg direkt am See." Ein Luxus für sie, den sie sehr genoss. "Mir hat auf der Wanderung wenig gefehlt. Aber eine heiße Dusche, die hätte ich gerne öfter gehabt…", sagt Lubkoll.
Es gab auch komische Situationen, erinnert sich Lubkoll: "Ich musste auch Jonny öfter mal beschützen. Hauptsächlich vor Hunden, aber einmal auch vor einem wild gewordenen Eselhengst. Das war echt gefährlich, ist aber zum Glück gut gegangen." Oder die Nacht, als Jonny mal alleine auf Wanderschaft ging. "Ich hatte den Strom am Zaun nicht angestellt", erzählt Lubkoll. "Die italienische Frau, bei der wir übernachteten, lief zu meinem Zelt und rüttelte daran: ‚Lotta, Jonny escapate! Jonny escapate!‘, rief sie." Doch die gelernte Schauspielerin hatte Glück: "Ein paar Häuser weiter fanden wir Jonny in einem Vorhof eines älteren Ehepärchens, die im Pyjama vor ihrem Haus standen, Jonny streichelten und vergnügt Fotos knipsten."
"Mit Jonny will ich immer wieder wandern!"
Immer weiter kamen sie vorwärts, wanderten von Percha bei Starnberg über Garmisch-Partenkirchen, den Fernpass, Imst, Landeck, den Reschenpass, Meran, Bozen, Trento, Caldonazzo, Bassano del Grappe und Padua bis ans Meer bei Chioggia. 600 Kilometer in 80 Tagen. An ihrer Destination angekommen, erlebte Lubkoll die Begegnung, die sie am meisten beeindruckte: "Nur wenige 100 Meter vor dem Ziel hielt ein Mann mit seinem Auto an, ging auf Jonny und mich zu und fragte, ob er mich einmal umarmen dürfte. Er nahm mich ganz innig und lange in den Arm und verschwand dann wieder, ohne ein Wort zu sagen." Lubkoll weiter über diesen besonderen Moment: "Er hatte eine ähnliche Statur wie mein Papa. Es kam mir fast so vor, als hätte mein Papa jemanden geschickt, um mich zu beglückwünschen, dass ich meinen Traum in die Tat umgesetzt und tatsächlich das Meer erreicht hatte. Mir kamen vor Freude die Tränen."
Zurück ging es mit dem Pferdeanhänger ihres Onkels. Doch zurück in ihr altes Leben ging Lubkoll nicht. "Ich habe eine Ausbildung zur Erlebnispädagogin und Wildnistrainerin gemacht und in einem Waldkindergarten gearbeitet." Heute lebt Lubkoll auf einem Aussiedlerhof. "Dort gibt es 20 Pferde und neun Esel, so hat Jonny seine Herde." Jeden Tag wandert sie mit ihm. Über ihre Wanderungen mit Jonny hat sie auch schon zwei Bücher geschrieben. Dazu zeigt sie auf Instagram ihr Leben mit Jonny – und hat bereits 11.200 Follower.
Natürlich hat sie längst neue Abenteuer mit ihm erlebt. "Wir haben in Spanien und Portugal überwintert. Jonny mag das Winterwetter hier nicht und ich auch nicht." Den vergangenen Sommer verbrachten Lubkoll und Jonny in Albanien. "Für Jonny sind diese Wanderungen eine schöne Aufgabe. Und für mich perfekt. Ich kann jeden Tag genießen und mit Jonny Zeit verbringen. Natürlich sind die Wanderungen auch anstrengend, aber ich komme runter", sagt die Autorin. Der Weg mit Jonny hat ihr Leben verändert. Es sei das Beste, was ihr passieren konnte, sagt sie. "Jonny ist mehr als ein Wanderpartner. Er ist für mich Familie. Und mit ihm will ich immer wieder wandern!" © Pferde.de
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