Über Jahre hinweg wurden Hunderte tote Grauwale an die Strände der nordamerikanischen Pazifikküste gespült. Forscher wollen jetzt das Rätsel dieses mysteriösen Massensterbens gelöst haben.
Grauwale sind äußert mobile Tiere. In den Wintermonaten paaren sie sich in den warmen Gewässern vor der mexikanischen Halbinsel "Baja California", im Sommer ziehen sie zur Nahrungssuche über 10.000 Kilometer nordwärts in die Arktis. Im Winter kommen sie zurück in die "Baja California", um dort ihre Kälber zur Welt zu bringen.
Eigentlich sind die tonnenschweren Riesen auf dieser Rundreise entlang der pazifischen Küste Nordamerikas durch nichts aufzuhalten. Doch entlang dieser Wanderroute werden seit 2019 ungewöhnlich viele tote Grauwale an Land gespült. Manche von Ihnen sind ausgemergelt, andere weisen keinerlei äußere Merkmale auf.
680 Grauwale seit 2019 gestrandet
Es ist dann ein zutiefst verstörender Anblick, wenn die bis zu 17 Meter langen und an die 35 Tonnen schweren Grauwale tot oder sterbend im Sand eines Strandes liegen. Allein seit 2019 bot sich dieses schreckliche Bild über 680 Mal. Denn so viele Grauwale wurden allein an die Küsten der amerikanischen Bundesstaaten Kalifornien, Oregon, Washington und Alaska gespült.
Wie viele der großen Meeressäuger noch zusätzlich auf dem Grund des Pazifischen Ozeans liegen, weiß niemand. Seit Ende des Walfangs hatten sich die Bestände im Ostpazifik eigentlich erholt. Was also setzt den hochintelligenten Meeressäugern seit vier Jahren dermaßen zu? Lange Zeit standen die Wissenschaftler vor einem Rätsel. Vermutet wurden Unterernährung, Kollisionen mit Schiffen oder Angriffen von Killerwalen.
Als "ungewöhnliches Sterblichkeitsereignis" eingestuft
Eine neue Studie, die in der Oktober-Ausgabe der Zeitschrift "Science" erschien, analysierte für die Untersuchung des mysteriösen Massensterbens zahlreiche Daten. Diese halfen dem von der "National Oceanic and Atmospheric Administration" (NOAA) als "ungewöhnliches Sterblichkeitsereignis" eingestuftes Verenden der Grauwale auf die Spur zu kommen.
Das Team um Studienleiter Dr. Joshua Stewart von der Oregon State University fand heraus, dass das mysteriöse Massensterben der Grauwale in direktem Zusammenhang mit den Veränderungen des Meereises in der Arktis steht. Denn die riesigen Meeressäuger verbringen nur etwa vier Monate mit der Nahrungsaufnahme in der Arktis. Den Rest des Jahres fasten sie meistens.
Dr. Joshua Stewart erklärte: "Sie müssen sich in diesen vier Monaten wirklich vollstopfen." Diese Energie muss dann für den tausende Kilometer langen Rückweg, die Paarung und die Geburt des Nachwuchses reichen.
Erwärmung der Arktis beeinflusst die Nahrungsqualität
Jetzt erklärte Stewart gegenüber "NBC News": "Wir haben den Fall dieser großen Sterbefälle geknackt." Verantwortlich für das Massensterben der Grauwale soll die durch den Klimawandel verantwortliche Erwärmung des Meereises der Arktis sein. Durch das Abschmelzen des arktischen Eises vergrößerte sich zunächst das Gebiet, in dem die Grauwale nach Nahrung suchen können. In den letzten Jahren wuchsen die Bestände daher auf geschätzte 27.000 Tiere.
Langfristig ist das Abschmelzen des Eises jedoch fatal. Denn anders als andere Walarten suchen Grauwale ihre Beute nicht im offenen Meer. Sie tauchen auf den Meeresgrund hinab, rollen sich auf eine Seite und saugen langsam das Bodensediment ein. Anschließend filtern sie Flohkrebse, ihre Hauptnahrungsquelle, mit ihren "Barten" aus Schlamm und Sand.
Die Flohkrebse, die den Boden bevölkern, ernähren sich wiederum von Algen, die unter der Eisdecke wachsen und nach dem Absterben auf den Meeresgrund sinken. Geht die Eisdecke zurück, wachsen weniger Algen – und mit demzufolge weniger Flohkrebsen stirbt die wichtigste Nahrungsquelle der Grauwale. Zwar besetzten andere Krebsarten die freigewordenen Plätze auf dem Boden, diese haben aber einen geringeren Lipidgehalt und liefern den Giganten somit weniger Energie.
Rückgang der Population der Grauwale erwartet
Bereits zweimal hat es nach dem Ende des kommerziellen Walfangs ein bis dato unerklärliches Wal-Sterben gegeben. In den Jahren 1987 bis 1989 und 1999 bis 2000 verloren die Grauwale – ähnlich wie jetzt – jeweils 15 bis 25 Prozent ihrer Gesamtpopulation. Dieser Rückgang wurde dann mit der eisbedeckten Fläche in der Arktis und der Biomasse der dort lebenden Flohkrebse verglichen. Das Ergebnis war eindeutig: immer dann, wenn die Eisfläche in der Arktis zunächst schmolz und dann wieder zunahm und gleichzeitig die Biomasse der Flohkrebse stark abnahm, kam es zu den drei großen Wal-Sterben. Dr. Joshua Stewart fasst kurz und bündig zusammen: "Weniger Eis bedeutet weniger Algen, was sich negativ auf die Beute der Grauwale auswirkt und letztendlich zu ihrem Tod führt."
Zwar hat sich das Massensterben inzwischen verlangsamt, und es ist eine Trendwende zu beobachten. Doch die Bestände der sanften Riesen gehen weiter zurück, da sich die Arktis durch den Klimawandel stärker erwärmt als andere Regionen und somit weniger nahrhafte Beutetiere zur Verfügung stehen. Bleibt die Arktis – wie befürchtet – im Sommer ganz eisfrei, wird dies den Druck auf die großen Meeressäuger weiter erhöhen.
Dass die Grauwale aussterben, glauben die Forscher trotzdem nicht. Neuste Schätzungen gehen von einer Population von zukünftig 14.500 Grauwalen im nördlichen Pazifik aus. Denn Wale sind anpassungsfähige und einzigartige Tiere – schließlich haben sie bereits in den vergangenen Zehntausenden von Jahren Eiszeiten, Wärmeperioden und nicht zuletzt die grausame Jagd durch den Menschen überstanden. © Deine Tierwelt
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