Tierversuche gelten in der Hirnforschung noch immer als Goldstandard, obwohl viele Experten ihre Validität anzweifeln. Woran das liegt – und wie Organisationen gegen das Leid der Primaten ankämpfen.
Es ist keine neue Frage, doch sie gewinnt immer wieder an Aktualität: Sind Tierversuche unabdingbar für wissenschaftlichen Fortschritt oder verursachen sie nur vermeidbares Tierleid? Ende 2022 geriet die von
Die Anklagepunkte gegen Musks Unternehmen sind vielfältig. Neuralink testete seine Gehirnimplantate an Affen und soll dabei Standards missachtet haben. So sollen Versuchstiere getötet worden sein, weil Implantate fehlerhaft eingesetzt wurden, was mit einer besseren Vorbereitung und weniger übereilten Durchführung verhindert hätte werden können. Whistleblower werfen dem Unternehmen vor, seit 2018 etwa 1.500 Tiere getötet zu haben.
Ärzte-Organisation kämpft für Verbot von Tierversuchen
Diese Zahl alleine ist aber noch kein Verstoß gegen gängige Forschungspraktiken. Denn Tierversuche mögen zwar ethisch umstritten sein. Allerdings sind sie in den meisten Ländern erlaubt, selbst wenn sie den Tod der Versuchstiere zur Folge haben. In den EU-Richtlinien ist verankert, dass das Leid der Tiere im Verhältnis zum Nutzen der Versuche stehen müsse. Ist der Erkenntnisgewinn also groß genug, ist das Vorgehen legal.
Aber ist das überhaupt der Fall? Viele Experten sind nicht dieser Ansicht. In Deutschland protestiert der Verein "Ärzte gegen Tierversuche” seit Jahrzehnten gegen Experimente mit Primaten. Die Organisation argumentiert, dass es effektivere Methoden gebe, das Gehirn zu erforschen. Zudem sei der Erkenntnisgewinn viel zu gering, um das Leid der Tiere zu rechtfertigen.
"Keine andere wissenschaftliche Methode ist so unzuverlässig und unberechenbar wie der Tierversuch. Ob ein Tier, und wenn ja welche Tierart, genauso auf eine Substanz reagiert wie der Mensch, weiß man immer erst nach der Prüfung am Menschen”, schreibt die Organisation auf ihrer Webseite. "Tierversuche sind nie validiert worden, gelten aber seit Jahrzehnten als Goldstandard in der biomedizinischen Wissenschaft. Das gibt es sonst nirgendwo, warum wird es im so wichtigen Gebiet Gesundheit akzeptiert?”
Auch die Tierschutzorganisation "PETA” setzt sich schon länger gegen Experimente an Affen ein. Eine Recherche des "ZDF” legte kürzlich neue Beweise offen, wie Affen für Studien zur Hirnforschung im Max-Planck-Institut in Tübingen gequält werden. "Die Tiere sind ihr Leben lang unvorstellbarem Leid ausgesetzt: Elektroden werden in ihr Hirn transplantiert, sie werden in Primatenstühlen fixiert, ihr Kopf wird oftmals mit einer implantierten Halterung festgeschraubt. Häufig werden sie durch Flüssigkeitsentzug zur ‚Mitarbeit‘ gezwungen”, beschreibt PETA die grausamen Methoden des Tübinger Instituts auf seiner Webseite.
Dass Tierversuche in der Hirnforschung oder der Toxikologie noch immer gängig sind und kaum hinterfragt werden, ist auch den strukturellen Bedingungen geschuldet. In Deutschland darf ein Medikament nicht in einer klinischen Studie an Menschen getestet werden, wenn es nicht vorher an Tieren getestet wurde. "Das Grundproblem ist, dass der Tierversuch sich noch nie behaupten musste. Der war schon immer da und ist deswegen der Goldstandard. Und es ist schwierig, etwas zu ersetzen, was an sich schon eigentlich nicht funktioniert”, sagt Nadine Dreser, Toxikologin an der Uni Konstanz gegenüber "Edition F”.
Innovative Methoden effektiver als Tierversuche?
Dabei zweifeln viele die Nützlichkeit von Tierversuchen aus guten Gründen an: Resultate aus Experimenten an Ratten oder Affen lassen sich eben nicht automatisch auf den menschlichen Organismus übertragen. "Ärzte gegen Tierversuche” wirbt daher für eine Förderung tierversuchsfreier Forschungsmethoden. "Die verfügbaren innovativen Methoden haben den Mensch und dessen individuelle Krankheiten im Fokus und müssen nicht den fehlerhaften Umweg über ‚Versuchstiere‘ machen. Bevölkerungs- und Patientenstudien, Obduktionen und Zellkulturen sind dabei nur der Anfang”, argumentiert die Organisation. "Zu Zeiten von Computersoftware mit ‚künstlicher Intelligenz‘, bildgebenden Verfahren und mikrofeinen Messmöglichkeiten ist es völlig inakzeptabel, weiterhin an einer veralteten und irrelevanten Methode festzuhalten.”
Personalisierte Forschung, die Zukunft?
Die "Ärzte gegen Tierversuche” sehen die Zukunft in personalisierter Forschung "am Menschen”. Dabei werden einem Patienten Hautzellen entnommen, diese zu Miniorganen entwickelt und anschließend isoliert. Gibt man auf diese künstlichen Organe ein Medikament, können die Wirkungen auf den Patienten viel präziser vorausgesagt werden. Es gebe also bereits die Möglichkeit, "am Modell eines (kranken) Menschen” zu forschen.
Auch sogenannte Multi-Organ-Chips (MOCs) sollen dabei helfen, den menschlichen Körper zu simulieren, so "Ärzte gegen Tierversuche”. Bei MOCs werden mehrere Organoide oder ähnliche menschliche Zellmodelle auf einem Biochip untergebracht, auf dem sie über ein Mikrokanal-System miteinander verbunden sind, erklären die Mediziner auf ihrer Website. Es ist mittlerweile möglich, bis zu zehn "Organe” auf einem Chip zu platzieren, sodass ein menschlicher Organismus gut simuliert werden kann. Die Mikrokanäle simulieren den Blutkreislauf und je nach Modell auch den Urinkreislauf. Durch ein angeschlossenes elektronisches Steuerungselement lassen sich diverse Messgrößen wie die Flussrate, oder die Reihenfolge, in der die Organe angesteuert werden, Computer-basiert regulieren.
"Diese Erfindung könnte die Medikamenten-Entwicklung revolutionieren – und einen Großteil der Tierversuche überflüssig machen”, teilte das "Bundesministerium für Bildung und Forschung” bereits 2016 in einem Newsletter über die Berliner Firma "TissUse”, die diese Multi-Organ-Chips herstellt, mit. So könne zum Beispiel die Wirkung von Tabletten getestet werden. Inzwischen sei die Entwicklung des Chips so weit fortgeschritten, dass auch Nervenzellen auf ihm wachsen können, hieß es bereits vor sieben Jahren von Seiten "TissUse”.
Die Frage ist also nicht einmal nur, ob Tierleid im Namen des Fortschritts vertretbar ist, sondern vielmehr, ob Tierversuche überhaupt die sinnvollste Methode ist, diesen zu erreichen. Unternehmen, wie Neuralink rechtfertigen die Experimente an Primaten mit hehren Zielen, die dem Menschen zugutekommen – wie die Heilung von Lähmungen, Blindheit oder Depressionen. Es ist allerdings fraglich, ob das Erreichen dieser Ziele mit Tierversuchen wahrscheinlicher ist als mit alternativen Methoden. © Deine Tierwelt
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.