Jeden Monat veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit die aktuellen Arbeitslosenzahlen. Doch wer als arbeitslos gilt und somit in der Statistik vorkommt, ist umstritten. Kritiker sagen, die Statistik bilde den Arbeitsmarkt nicht realistisch ab. Manche sprechen sogar von "Manipulation".
5,8 Prozent betrug die Arbeitslosenquote laut der offiziellen Statistik im Januar 2018. Ein guter Wert, möchte man meinen, zumal sie im Vergleich zum Vorjahr gesunken ist – auf den niedrigsten Wert in einem Januar seit 25 Jahren.
Das findet natürlich auch die geschäftsführende Bundesarbeitsministerin
Dass die Politik solche Werte zum Anlass nimmt, sich selbst zu loben, leuchtet ein. Doch bilden diese Zahlen die Situation auf dem Arbeitsmarkt realistisch ab? Finden sich alle Arbeitslosen in der Statistik wieder? Wer gilt überhaupt als "arbeitslos"?
Nicht arbeitslos, aber "unterbeschäftigt"
Wer das wissen will, muss einen Blick in das Sozialgesetzbuch werfen, genauer gesagt ins SGB III. Laut Paragraf 138 gilt als arbeitslos, wer keinen sozialversicherungspflichtigen Job hat, einen solchen sucht und sich dafür bei der Arbeitsagentur oder dem Jobcenter gemeldet hat.
Es geht dabei um Jobs mit mindestens 15 Wochenstunden Arbeitszeit. Das heißt, wenn jemand 14 Stunden und 30 Minuten in der Woche arbeitet, gilt er ebenfalls als arbeitslos. Im Januar waren nach dieser Definition 2,57 Millionen Menschen arbeitslos.
In dieser Statistik tauchen allerdings nicht auf: Menschen, die sich gerade in einer von der Arbeitsagentur vermittelten Weiterbildung oder einem Training befinden, oder Arbeitsuchende, die sich vorübergehend krankgemeldet haben.
Ebenso wenig die sogenannten Ein-Euro-Jobber und Menschen, die 58 Jahre oder älter sind und denen seit mehr als einem Jahr kein Job mehr angeboten wurde, weil die Aussichten, sie wieder in den Arbeitsmarkt zu bekommen, als schlecht eingeschätzt werden.
Nun ist es nicht so, dass die Arbeitsagentur diese Menschen in ihren monatlichen Zahlen verschweigt, sie finden sich aber nicht in der Gruppe der Arbeitslosen wieder, sondern bei den sogenannten Unterbeschäftigten.
"Manipulation in höchster Vollendung"
Und da setzt auch die Kritik an. Denn rechnet man diese Menschen mit ein, kommt man im Januar 2018 nicht auf rund 2,6 Millionen Arbeitslose, sondern auf etwa 3,5 Millionen und auf eine Quote von 7,7 Prozent.
Dieser Wert kommt aber in der breiten Öffentlichkeit nur selten an, hängen bleiben vor allem die offizielle Arbeitslosenzahl und -quote.
Dass das aber nicht nur ein Problem der Berichterstattung ist, stellt der Arbeitsökonom Heinz-Josef Bontrup von der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen klar. Denn für ihn ist schon der Begriff "Unterbeschäftigte" manipulativ.
Ein-Euro-Jobber (von denen es immerhin noch rund 100.000 gibt), Ältere mit einer schlechten Prognose für den Arbeitsmarkt und Menschen in Weiterbildung seien keine Unterbeschäftigten, sondern schlicht Arbeitslose, sagt Bontrup im Gespräch mit unserer Redaktion.
Für sie eine eigene Gruppe aufzumachen, sei der Versuch, sie "wegzudefinieren", um bessere Zahlen zu bekommen.
Ähnliches gelte für Menschen, die sich vorübergehend krank melden. "Die fliegen dann für die Tage der Krankmeldung einfach aus dem System. Das ist Manipulation in höchster Vollendung", so Bontrup.
Tatsächlich ist der Begriff der "Unterbeschäftigten" eine relativ neue Erfindung. Dass es ihn überhaupt gibt, sei auch eine Reaktion auf Kritik gewesen, so der Arbeitsmarktexperte Alexander Spermann zu unserer Redaktion.
Die Einführung sei ein Fortschritt gewesen, weil damit die "übliche politische Manipulation" der Arbeitslosenstatistik transparenter geworden sei.
Bevor es die Kategorie der Unterbeschäftigten gab, musste man nach Ein-Euro-Jobbern und Arbeitslosen in Weiterbildungsmaßnahmen in den Tiefen der Arbeitsmarktstatistik suchen. Nun tauchen sie wenigstens zusammengefasst und an prominenterer Stelle auf.
Abgesehen von der Statistik sieht Spermann Weiterbildungen und andere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen insgesamt kritisch: "Denn viele von ihnen haben den für Politiker günstigen Nebeneffekt, die Statistik schönzurechnen."
Einige willkürliche Definitionen bei der Erfassung älterer Arbeitsloser dienten sogar nur dazu, die Zahl der Arbeitslosen möglichst gering auszuweisen.
Ist arbeitslos, wer nicht von seiner Arbeit leben kann?
Darüber hinaus gibt es noch die sogenannte stille Reserve, die ebenfalls nicht in die Arbeitslosenzahlen einfließt, aber zur Unterbeschäftigung zählt. Dazu gehören Menschen, die sich nicht arbeitslos gemeldet haben, aber arbeiten könnten und vielleicht auch möchten.
Ein klassisches Beispiel sind Frauen, die wegen der Kindererziehung zu Hause geblieben sind und in einem Haushalt lebten, in dem genügend Geld vorhanden war, sodass sie kein Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe beziehen mussten oder wollten.
Oder Menschen, die nach Dutzenden Bewerbungen entmutigt sind, erst einmal nicht weiter suchen und vom Ersparten leben.
Laut Sabine Klinger vom Fachbereich Prognosen und Gesamtwirtschaftliche Analysen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) waren das im vergangenen Jahr nach ersten Schätzungen rund 270.000 Menschen.
Die stille Reserve tauche deswegen nicht in den Arbeitslosenzahlen der Arbeitsagentur auf, weil ihr eine andere Definition für Arbeitslosigkeit zugrunde liege, so Klinger zu unserer Redaktion.
Nämlich die der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO). Demnach gilt jemand schon nicht mehr als arbeitslos, wenn er mindestens eine Stunde pro Woche arbeitet.
Die stille Reserve ist in den vergangenen zehn Jahren von 1,05 Millionen auf jetzt 270.000 gesunken. Allerdings, so Alexander Spermann, bedeute das mitnichten, dass nun 780.000 Menschen mehr von ihrer Arbeit leben können.
Vor allem die Frauen arbeiteten heutzutage häufig in Teilzeit- oder Mini-Jobs, von denen allein sie eben nicht leben könnten.
"Nicht zweieinhalb, sondern sechs Millionen Arbeitslose"
Das ist auch einer Hauptkritikpunkte von Heinz-Josef Bontrup: Dass Deutschland einen "katastrophalen, präkarisierten Arbeitsmarkt" habe, der sich in den offiziellen Zahlen überhaupt nicht widerspiegele.
Nur 25 der rund 40 Millionen abhängig Beschäftigten hätten überhaupt eine Vollzeitstelle, die anderen 15 Millionen arbeiteten im Schnitt 17 Stunden pro Woche. "Davon kann man nicht leben – und vor allem wird man davon im Alter nicht leben können", so der Arbeitsökonom.
Viele dieser Menschen wollen laut einer Umfrage des IAB tatsächlich auch mehr arbeiten. Aus Bontrups Sicht müssten sie also auch zu den Arbeitslosen zählen. "Würde man das tun, hätte man in Deutschland nicht 2,5 oder 3,5 Millionen, sondern sechs Millionen Arbeitslose."
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