Dabei sein, wenn süße Tierbabys auf die Welt kommen, verletzten Tieren helfen und einen Job ausüben, der in unserer Gesellschaft als Prestige-Beruf angesehen wird. Als Veterinär tätig zu sein, klingt nach dem absoluten Traumjob für Tierliebhaber. Dieser entpuppt sich nach dem Studium jedoch als Albtraum für viele junge Tiermediziner - und vor allem für Tiermedizinerinnen.
Gerade junge Mädchen haben den Wunsch, später einmal als Tierärztin zu arbeiten, wie eine Forsa-Studie von 2021 zeigt. Auch Anna Magdalena Naderer hatte diesen Traum bereits seit ihrem siebten Lebensjahr, wie sie im Gespräch mit unserer Redaktion verrät.
Naderer wurde bereits vor ihrem Studium vor dem vermeintlichen Traumjob gewarnt. Die Aussichten auf Schichtdienste, viele Überstunden und eine schlechte Bezahlung konnten die junge Frau damals jedoch nicht davon abbringen, ihrem Berufswunsch nachzugehen. Wie ihr geht es vielen jungen Menschen, insbesondere Frauen. Eine Erhebung des Statistischen Bundesamts zeigt, dass Veterinärmedizin in Deutschland hauptsächlich von Frauen studiert wird. Der Frauenanteil lag nach dieser Erhebung im vergangenen Jahr bei knapp über 85 Prozent.
Zu einem Studium der Veterinärmedizin gehört auch ein praktisches Jahr. Naderer berichtet, dass Studierende damals genau wie sie darauf brannten, den Klinik- und Praxisalltag kennenzulernen und wirklich als praktische Tierärztin tätig zu sein. "Heute ist es so, dass viele der Studierenden ihr Praktikum oder ihr praktisches Jahr zum Teil in der Industrie oder in anderen Bereichen machen, weil knapp die Hälfte der Studierenden schon darüber nachdenkt, später in keine Praxis oder Klinik zu gehen."
Warum immer weniger Studierende als Tierärzte praktizieren wollen
Naderer kann die Entscheidung vieler junger Veterinäre verstehen. Auch sie schlug einige Jahre nach ihrem Studium einen anderen Weg ein und war unter anderem in der Pharmaindustrie tätig. Doch was ist es, das den Job so unattraktiv macht? Sind es eben diese Dinge, vor denen Naderer bereits vor dem Studium gewarnt wurde, oder steckt noch mehr dahinter?
Nach ein paar Jahren Arbeit als Tierärztin in Deutschland und der Schweiz kam Naderer zu dem Entschluss, dass es so für sie nicht mehr weitergeht. "Ich habe gemerkt, wenn ich so weiter mache, dann kann ich nicht mehr. Ich habe mich sehr ausgenutzt gefühlt." Grund für dieses Gefühl war unter anderem die schlechte Bezahlung, viele Überstunden sowie Schicht- und Wochenenddienste. "Die fingen am Donnerstag an und waren am Montag zu Ende. 24 Stunden durchgehend. Und dann kam aber erst die normale Woche", berichtet Naderer von ihren Anfängen in Tierarztpraxen.
Großer Gender-Pay-Gap als eines der Hauptprobleme
Tatsächlich beträgt der durchschnittliche Bruttostundenlohn von angestellten Tierärztinnen und Tierärzten in Deutschland 20,51 Euro. Das sind durchschnittlich 42.661 Euro Bruttojahresgehalt. Und trotz des Anstiegs der Gehälter in den vergangenen Jahren sind Tierärztinnen und Tierärzte im Vergleich zu anderen akademischen Berufen im Gehalt schlecht aufgestellt. Auch Zuschläge für Notdienste sind keine Selbstverständlichkeit, sondern Verhandlungssache.
Hinzu kommt, dass angestellte Tierärztinnen 18,4 Prozent weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen – und das bei gleicher Qualifikation und Berufserfahrung. Ein Grund für diesen großen Gender-Pay-Gap ist wohl der Mutterschutz für Tierärztinnen. In den meisten Berufen beginnt dieser sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Für Tierärztinnen gilt jedoch ab dem Moment, ab dem sie Kenntnis über ihre Schwangerschaft haben, ein Beschäftigungsverbot. Möchten sie dennoch weiterarbeiten, tun sie dies auf eigene Gefahr. Zusätzlich muss dem auch der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin zustimmen.
Das liegt an den Gefahren, denen man sich als Veterinär aussetzt. "In der Tierarztpraxis sind Erreger und andere Reagenzien, mit denen man sonst nicht in Berührung kommen würde", erklärt Naderer. "Parasiten aus dem Kot beispielsweise. Auch mit manchen Medikamenten darf man als Schwangere nicht in Berührung kommen, weil das den Fötus oder Embryo gefährden kann. Ebenso ist es an der Tagesordnung zu Röntgen."
Die Angst, eine angestellte Tierärztin könnte schwanger werden und daher lange ausfallen, ist bei Praxis- und Klinikbesitzerinnen und -besitzern groß. Das bietet den wenigen männlichen Tierärzten schlichtweg eine bessere Verhandlungsbasis. Auch Naderer hat diese Erfahrung bereits machen müssen. "Ich habe tatsächlich mal den Satz gesagt bekommen, 'Lena, du bist zwar eine gute Tierärztin, aber leider kein Mann'. Und das kratzt natürlich an einem."
Der Job mit dem höchsten Suizidrisiko
Eine Untersuchung, die 2020 im Deutschen Tierärzteblatt veröffentlicht wurde, lieferte Ergebnisse, die schockieren: Über 19 Prozent der 3.179 befragten Tierärztinnen und Tierärzte gaben an, aktuell Suizidgedanken zu haben. In der Allgemeinbevölkerung lag diese Zahl zu dem Zeitpunkt bei 5,7 Prozent. Die Ergebnisse ergaben zudem, dass bei 32,1 Prozent der Veterinäre ein erhöhtes Suizidrisiko vorlag. Knapp darunter lag die Zahl an Tiermedizinerinnen und -medizinern mit klinisch relevanten Depressionssymptomen. Damit ist der Job des Tierarztes, derjenige mit dem höchsten Suizidrisiko in Deutschland. Auch in anderen Ländern, wie beispielsweise England oder den USA, kam man zu ähnlich dramatischen Ergebnissen.
Liegt das aber wirklich "nur" an den unmöglichen Arbeitszeiten und der verhältnismäßig schlechten Bezahlung? Wohl kaum. Auch Naderer bestätigt, dass die miesen Arbeitsbedingungen nur eine Teilschuld tragen. Ein großes Problem: Die psychische Belastung für Veterinäre ist enorm hoch. "Der tierärztliche Beruf ist ein schöner und dennoch wirklich sehr belastender Beruf. Die emotionale Belastung ist groß, man entscheidet zwischen Leben und Tod."
Naderer beschreibt uns noch einen weiteren Aspekt bezüglich des hohen Suizidrisikos, den man im ersten Moment vielleicht nicht bedenkt: "Der Tierarzt hat eine eigene Hausapotheke und eben auch Betäubungsmittel. Dementsprechend sitzt man an der Quelle und wüsste natürlich auch, was man tun müsste", um das eigene Leben zu beenden (Anm. d. Red.).
Psychische Belastung und finanziell eingeschränkte Tierbesitzer
Die psychische Belastung für Veterinäre ist hoch. Zum einen arbeiten sie häufig mit kranken, oft leidenden oder sterbenden Tieren, zum anderen haben die Medizinerinnen und Mediziner auch ständig mit besorgten Tierhalterinnen und -haltern zu tun. Die Tierärztin erzählt von Tierbesitzerinnen und -besitzern, die sich aufgrund ihrer finanziellen Lage für eine alternative, günstigere Behandlung entscheiden müssen. Öfter kommt es vor, dass diese Alternative keine langfristige Heilung für das kranke Tier verspricht, sondern nur die Symptome lindert. Auch für die behandelnden Veterinäre ist eine solche Situation belastend. "Für uns steht immer das Tier im Fokus. Es ist unser höchstes Ziel dem Vierbeiner und damit auch seinem Besitzer zu helfen, gelingt uns das nicht, nehmen wir die Gedanken mit nach Hause."
Nicht selten kommt es vor, dass Tiere eingeschläfert werden müssen, um ihr Leiden zu beenden. "Für mich ist Euthanasie etwas Positives. Nicht, weil ich es gerne mache, aber kann man das Leid des Tieres nicht mehr ausreichend behandeln, so kann man es wenigstens davon erlösen, auch wenn es ein trauriger Weg ist, für das Tier aber in solchen Fällen der bessere. Ziel ist es, Schmerz und Leid maximal zu reduzieren, wir handeln hier nach dem Tierschutzgesetz."
Was ist Euthanasie?
- Euthanasie ist die beabsichtigte Tötung von Tieren unter Zuhilfenahme von geeigneten Medikamenten durch einen Tierarzt oder -ärztin oder eine andere befugte Person.
"Wenn wir merken, dass die Lebensqualität für das Tier nicht mehr gegeben ist, dass die Schmerzen und das Leid zu groß sind, dann finde ich es gut, dass wir diesen Weg wählen können, auch für den Tierbesitzer. Es ist aber natürlich immer traurig." Die Mitarbeitenden der Praxis leiden in diesen Fällen mit dem Tier und auch mit dem Tierbesitzer, der sein Tier gehen lassen muss, berichtet die Veterinärin. Sie erzählt auch von Fällen, bei denen der Tierhalter das Einschläfern als letzten Ausweg sieht, auch wenn dafür aus medizinischer Sicht kein Grund herrsche. Diese Fälle seien schwierig, die Tierbesitzer seien emotional und/oder finanziell am Limit, doch die Veterinäre dürfen und wollen das Tier nicht ohne medizinischen Grund einschläfern. Auch solche Situationen schlagen auf die Psyche.
Psychische Belastung trotz Personalmangels im Praxisalltag mindern
Naderer ist der Ansicht, dass sich Tierarztpraxen und -kliniken einiges von branchenfremden Unternehmen abschauen können, wenn es um die mentale und körperliche Gesundheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geht. So kann darauf geachtet werden, die Arbeitslast in einem gesunden Rahmen zu halten. Für Tierarztpraxen hieße das zum einen genügen Ärztinnen und Ärzte anzustellen, aber auch entsprechend viele Tiermedizinische Fachangestellte (TFAs), um auch diese nicht zu überlasten. "In vielen Praxen ist es aktuell so, dass man drei Tierärzte hat und nur eine Tiermedizinische Fachangestellte und die hat einen Allrounder-Job. Sie sitzt am Service, hilft bei der OP, muss in der Behandlung assistieren und das Tier gut genug halten. Man ist auch als Tierarzt verloren, wenn man immer suchen muss, wo die helfende Hand ist. Die TFAs sind eigentlich das Herz und die Seele einer Tierarztpraxis."
Außerdem wichtig sei Wertschätzung gegenüber allen Mitarbeitenden und sich als Chefin oder Chef zu überlegen, welche Stärken wer mitbringt und wie man diese am besten einsetzen und fördern könnte. Auch regelmäßige Feedbackgespräche und Supervisionen im Team können dazu beitragen, die hohe psychische Belastung zu mindern. Naderer selbst versucht all diese Dinge in ihrer Praxis umzusetzen, was aufgrund des Personalmangels jedoch nicht immer leicht ist. Zudem wirkt sie an einer "Mental Academy" mit, die sich gerade im Aufbau befindet und Tierarzt-Mitarbeitende unterstützen soll. Dabei soll es um die psychischen sowie körperlichen Stressfaktoren gehen, die dieser Job mit sich bringt.
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Beim Thema Gehalt wird es jedoch schwieriger. Im November 2022 wurde eine neue Gebührenordnung für Tierärzte (GOT) eingeführt, die vorschreibt, nach welchem Satz Tierärztinnen und -ärzte bei den Halterinnen und Haltern abrechnen müssen. Die Neuerung war dringend nötig, wie Naderer erklärt, da die GOT über Jahrzehnte nicht angepasst wurde, das Lohnniveau und alle anderen Preise aber natürlich gestiegen sind. "Die Wertschätzung des Mitarbeiters spiegelt sich in der Abrechnung seiner geleisteten Arbeit wider und nur so können adäquate Löhne gezahlt werden."
Ein Problem, das trotz Anpassung der GOT bleibt: Die wenigsten Besitzerinnen und Besitzer haben eine Krankenversicherung für ihr Tier abgeschlossen und können plötzlich anfallende Kosten, wie beispielsweise für eine OP, häufig nicht stemmen. "Man hat dann auch oft Mitleid und rechnet daher nur sehr, sehr gering ab. Das kann auch im einfachen bis dreifachen Satz der GOT variieren", erläutert Naderer die Misere. Daher empfiehlt die Tierärztin jedem Tierhalter und jeder Tierhalterin, vor allem Hunde- oder Katzenbesitzerinnen und -besitzern, eine Krankenversicherung für ihren vierbeinigen Liebling abzuschließen.
Hilfsangebote
- Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Suizid-Gedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 0800/1110-111 (Deutschland), 142 (Österreich), 143 (Schweiz).
- Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.
Über die Person:
- Dr. med. vet. Anna Magdalena Naderer ist Tierärztin in München und Mit-Gründerin von filu & vet-connect.vet.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Dr. med. vet. Anna Magdalena Naderer
- presseportal.de: Forsa-Studie für Blue Ocean zeigt Wunschberufe der 4- bis 13-Jährigen auf: Mädchen wollen Tierärztin werden, Jungen Polizist
- de.statista.com: Anzahl der Studierenden im Fach Veterinärmedizin in Deutschland nach Geschlecht in den Wintersemestern von 2010/2011 bis 2022/2023
- bundangestelltertieraerzte.de: Welches Gehalt verdienen Tierärzte?
- Schwerdtfeger K., Bahramsoltani M., Glaesmer H.: Tierärztinnen und Tierärzte sind häufiger suizidgefährdet als andere Berufsgruppen. Deutsches Tierärzteblatt (PDF zum Download)
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