Was, wenn eine Frau in ihrer Mutterrolle nicht dem gesellschaftlich propagierten Mutterideal entspricht und sich rückblickend gegen ihre Mutterschaft entscheiden würde? Dann ist die Rede von Regretting motherhood, dem Bereuen der Mutterschaft. Auch Wiebke Schenter, zweifache Mutter, bereut ihre Mutterschaft und setzt sich als Aufklärungsaktivistin bei Instagram dafür ein, Regretting motherhood aus der Tabuzone zu holen.
Mutterschaft. Das größte Glück, das für Mamas mit purer Zufriedenheit einhergeht, während die Kleinen friedlich in einem perfekt aufgeräumten Kinderzimmer spielen. Ein erfüllendes Bild, das vor allem von der Werbung oder zahlreichen Accounts in den sozialen Medien gezeichnet wird. Was aber, wenn die Mutterschaft sich eben nicht erfüllend anfühlt? Und eine Frau - trotz der unendlichen Liebe zu ihrem Kind - bereut, Mutter geworden zu sein?
Weil sie sich schuldig fühlt, einem propagierten Mama-Ideal nicht entsprechen zu können, in der Fürsorgearbeit überfordert ist oder befürchtet, sich selbst nicht mehr verwirklichen zu können. Genauso geht es Wiebke Schenter. Sie ist Mutter zweier Kinder und sensibilisiert dafür, eine Lebensrealität aus der Tabuzone zu holen: Regretting motherhood, das Bereuen der Mutterschaft.
Aufgekommen ist der Begriff "Regretting motherhood" 2015 durch die gleichnamige Studie der israelischen Soziologin Orna Donath. Die Autorin beschreibt darin Mütter, die es anhaltend bereuen, Mutter geworden zu sein und ihre Mutterschaft als negativ erleben. Im Rahmen der Studie wurden Frauen befragt, die die Frage "Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten, mit Ihrem heutigen Wissen und Ihrer Erfahrung, würden Sie dann nochmal Mutter werden?" mit einem klaren Nein beantworteten.
Die Liebe zu den Kindern wird Betroffenen häufig abgesprochen
Auch Wiebke Schenter würde aus heutiger Sicht Donaths Frage mit Nein beantworten. Nicht, weil sie ihre Kinder nicht liebt, sondern weil sie in den vergangenen Jahren als Mutter erkannt hat, dass Mutterschaft nicht gleichermaßen zu jedem Menschen passt. Auch nicht zu ihr, wie sie im Gespräch mit unserer Redaktion einordnet. "Wie Muttersein in unserer Gesellschaft gezeichnet wird, fühlt sich für mich wie ein Korsett an, aus dem ich nicht mehr herauskomme", erklärt die in Wien lebende Deutsche.
Um diese Gefühle zu erkennen und schließlich auch zu akzeptieren, habe sie viele Jahre der Eingeständnisse und Selbstreflexion benötigt. Ihr erlangtes Wissen, ihre Erfahrungen und ihren Aufruf zur ehrlichen Mutterschaft kommuniziert sie seit einigen Jahren auf ihrem Instagram-Kanal. Als "Piepmadame" zeigt Wiebke realistische Momentaufnahmen aus ihrem Alltag und regt mit ehrlich formulierten Texten zum Nachdenken an – nicht ohne dabei den Finger immer wieder in die Wunde zu legen.
"Ich weiß ja auch nicht, wie ich es erklären kann, dass es auch diejenigen verstehen, die es nicht verstehen und in mir eine furchtbare Mutter sehen wollen", heißt es etwa in einem Instagram-Beitrag, in dem Wiebke einen wesentlichen Dreh- und Angelpunkt rund um Regretting motherhood thematisiert: Denn Frauen, die ihre Mutterschaft bereuen, wird häufig von Nicht-Betroffenen die Liebe zu ihren Kindern abgesprochen – ein Vorwurf, dem sich auch Wiebke immer wieder stellen muss.
Dabei sei gerade die große Liebe zu ihren Kindern einer der Auslöser für ihre Regretting-motherhood-Gefühle, erklärt sie:
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Wiebke Schenter: "Gewissermaßen habe ich keine eigene Lebenszeit mehr"
Ständig verfügbar und abrufbereit zu sein, egal ob gesund oder krank, bei der Arbeit oder während der Freizeit sind jene Herausforderungen, denen Wiebke als Mutter Tag für Tag begegnet. "Alles, was ich mache, muss abgesprochen werden – gewissermaßen habe ich keine eigene Lebenszeit mehr", fasst sie zusammen. Umso wichtiger ist es ihr, auf ihrem Kanal dafür zu sensibilisieren, "das Gefühl zuzulassen, dass Mutterschaft nicht zu jedem Menschen passt".
So plädiert sie etwa dafür, "zu sagen: 'Ich wäre lieber Tante'. In dieser Situation könnte ich die Kinder lieben und gewissermaßen die positiven Momente der Elternschaft erleben, ohne die komplette Verantwortung tragen zu müssen."
Mehr als 94.000 Menschen (Stand: 5. Februar 2024) folgen Wiebke inzwischen bei Instagram. Dabei waren die Reaktionen auf das Bekenntnis, ihre Mutterschaft zu bereuen, nicht immer positiv. Bis heute nicht. "Am Anfang waren die Reaktionen auch in der eigenen Bubble ziemlich heftig. Ich hatte natürlich auch Angst, auszusprechen, wie ich fühle", blickt Wiebke im Gespräch zurück. Inzwischen habe sich hinter ihr aber "eine echte Mannschaft, oder besser Frauschaft, aufgebaut. Viele Frauen fühlen ähnlich und stehen hinter mir", freut sie sich.
Dabei bestärken vor allem die Reaktionen von außen Wiebke darin, einen wichtigen Aufklärungsbeitrag zu leisten. "Indem viele meiner Videos viral gehen, erhalte ich immer wieder positives Feedback von Frauen, die neu auf meinen Kanal gestoßen sind und sich total abgeholt fühlen", ordnet sie ein. "Natürlich gibt es aber auch negative Reaktionen wie 'Das ist eine Schande', 'Die armen Kinder' oder 'Darüber spricht man öffentlich nicht'."
Schenter: "Ich habe mich wahnsinnig dafür geschämt, keine überglückliche Mutter zu sein"
Sich einzugestehen, Mutterschaft als nicht erfüllend und belastend zu empfinden, ist ein herausfordernder Schritt, das weiß auch Wiebke. "Als meine älteste Tochter 2014 geboren wurde, war ich genauso, wie viele von denen, die mich heute angreifen. Ich habe mich wahnsinnig dafür geschämt, keine überglückliche Mutter zu sein und habe entsprechend lange die Schuld bei mir gesucht", blickt sie zurück und ergänzt: "Ich dachte, ich müsse mir einfach noch mehr Mühe geben und noch aufopferungsvoller sein. Aus diesem Grund habe ich es damals auch nicht infrage gestellt, ein zweites Kind zu bekommen."
Mit ihrer Erkenntnis von heute hätte sie damals "kein zweites Kind bekommen, aber ich war damals noch nicht so weit", führt sie weiter aus. "Aus diesem Grund kann ich auch niemanden verurteilen, der erstmals von Regretting motherhood hört und entsprechend abwehrend auf dieses Thema reagiert."
Ihrem eigenen Zweifel und den Unsicherheiten konnte Wiebke damals nur begegnen, indem sie das Tabuthema ganz konkret benannte: "Und nur, weil ich das mache, liebe ich meine Kinder nicht weniger – im Gegenteil: Die krasse Liebe zu meinen Kindern ist ja der Grund, warum ich mich mit meiner ersten Tochter damals so verausgabt habe – weil ich alles noch besser machen wollte", fasst sie die Gefühle zusammen, die sie in ihrer Rolle als Mutter belasten.
Den Punkt, an dem sie heute steht, zu erreichen, war nicht einfach. Vielmehr musste Wiebke sich Strategien aufbauen, um zu erkennen, was für sie persönlich das Beste ist. Das Bereuen der Mutterschaft klar zu benennen, sei dabei der erste und wohl auch wichtigste Schritt. "Man muss ganz individuell erkennen, was für einen persönlich das Beste ist. Ich für meinen Teil brauche viel Zeit für mich alleine. Insofern spielen Einrichtungen wie der Kindergarten oder die Schule für mich eine große Rolle. Um das zu erkennen, muss man ehrlich zu sich selbst sein", weiß Wiebke.
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Schenter: "Erst wenn das Problem erkannt wurde, können individuelle Lösungsstrategien entwickelt werden"
Als liebende Mutter möchte Wiebke ihrer Tochter und ihrem Sohn "das Bestmögliche geben. Das kann ich aber nur, wenn ich selbst gut zu mir bin", hält sie fest. Deswegen habe sie auch "aufgehört, mich selbst unter Druck zu setzen, alles richtig machen zu müssen".
Um das Bereuen der Mutterschaft aus der Tabuzone zu holen, zeigt Wiebke sich in den sozialen Medien nicht nur transparent – sie macht sich auch angreifbar für destruktive und teils übergriffige Reaktionen. Eine Herausforderung, der sie sich stellt und die sie als lohnenswert empfindet: "Wir müssen über Regretting motherhood sprechen und auch wenn es mich angreifbar macht, mich mit meinem Gesicht im Internet zu zeigen, können sich betroffene Frauen viel besser mit mir und dem Thema identifizieren." Wiebke möchte "die Frauen erreichen, die mich brauchen, um zu ihren Gefühlen stehen zu können. Doch erst wenn das Problem erkannt wurde, können individuelle Lösungsstrategien entwickelt werden".
Wie diese Strategien aussehen, könne nur jede Betroffene für sich selbst herausfinden, eine allgemein gültige Empfehlung kann auch Wiebke nicht geben. "Was ich aber kann, ist alle zu ermutigen, mehr outside the box zu denken", so die zweifache Mutter.
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Wie kann Regretting motherhood entstigmatisiert werden?
Als Wiebke begonnen hat, auf Instagram Aufklärungsarbeit rund um Regretting motherhood zu leisten, "fand auf der Plattform noch gar keine Aufklärung statt", blickt sie zurück. Umso mehr freut sie sich, dass das Thema inzwischen in Vorträgen oder etwa Podcasts besprochen wird.
Von einer Enttabuisierung des Themas kann jedoch nicht die Rede sein: "Es gibt Tage, an denen ich einen Beitrag bei Instagram poste und anhand der tollen und aufgeklärten Reaktionen denke 'My job is done'. Und dann gibt es Tage, an denen ein Video von mir die Bubble verlässt und ich feststelle, dass doch noch viel zu tun ist."
Wiebke weiß, dass Regretting motherhood nur enttabuisiert werden kann, wenn offen über Ängste, und Herausforderungen, aber auch über die von der Gesellschaft suggerierte Vorstellung einer vermeintlich perfekten Familie gesprochen wird.
Funktionieren kann das nur, wenn Regretting motherhood vielmehr als Teil von Mutterschaft und nicht als Stigmatisierung von Betroffenen gesehen und verstanden wird. Eine Antwort, die auch Wiebke während ihrer persönlichen und schmerzhaften Reise gelernt hat: "Mutterschaft ist nicht für jeden Menschen etwas."
Über die Gesprächspartnerin
- Wiebke Schenter ist zweifache Mutter und lebt seit 20 Jahren in Wien. Als "piepmadame" klärt sie bei Instagram über "Regretting motherhood" auf und sensibilisiert für Themen wie "Gleichberechtigte Elternschaft" und "Feministische Mutterschaft". Auf der Social-Media-Plattform folgen ihr knapp 95.000 Accounts.
Verwendete Quellen
- academia.edu: Regretting Motherhood: A Sociopolitical Analysis
- instagram.com: Instagram-Kanal von Wiebke Schenter
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