Erziehungsexpertin Nora Imlau erklärt im Interview, was bedürfnis- und bindungsorientierte Elternschaft bedeutet und wie Eltern sich davor schützen können auszubrennen.
Wurden Kinder früher noch autoritär erzogen, setzen viele moderne Eltern heute auf eine bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung. Doch häufig brennen sie dabei aus.
Erziehungsexpertin und Autorin Nora Imlau stellt im Interview mit unserer Redaktion die Ursachen für diesen Effekt dar und erklärt, dass bindungsorientierte Erziehung nicht bedeutet, dass der gesamte elterliche Alltag ausschließlich um die Bedürfnisse ihrer Kinder kreisen muss.
Frau Imlau, der Titel Ihres neuen Buches "Bindung ohne Burnout" nennt das sprichwörtliche Kind beim Namen: Eltern brennen bei ihrer Erziehung ihrer Kinder oft aus. Warum ist das so?
Nora Imlau: Es gibt verschiedene Belastungsfaktoren, die auf Eltern wirken. Einige davon sind struktureller Natur, weil Eltern erwerbstätig sein müssen, um die Lebenshaltungskosten tragen zu können. Faktoren wie etwa die Inflation erhöhen den Druck entsprechend. Dazu kommen Herausforderungen wie häufig geschlossene Kitas, Grippe- und Erkältungswellen oder angeschlagene Betreuungsnetzwerke.
Im Einzelnen betrachtet sind diese Dinge nicht allzu problematisch, treffen alle Faktoren jedoch aufeinander, befinden sich die Eltern häufig in einer Situation der Überforderung. Sie fühlen sich zerrissen zwischen Zeit, die sie im Job verbringen müssten und der Zeit, die sie bei ihren Kindern sein müssten. Vor allem für Mütter kann das ein Problem werden, weil sie in der Folge häufig diejenigen sind, die weniger verdienen und mehr Carearbeit leisten. Das führt dann zu einer Schieflage – auch in der Beziehung zum Partner. Eltern haben häufig das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen.
Welche weiteren Faktoren sorgen dafür, dass Eltern sich ausgebrannt fühlen?
Zum einen sprechen wir von weltpolitischen Aspekten. Eltern machen sich natürlich Sorgen und fragen sich, in was für einer Welt ihre Kinder aufwachsen werden. Hier spielt etwa auch die Klimakrise eine Rolle. Insofern sprechen wir hier von großen globalen Faktoren, die einen weiteren Stressfaktor darstellen.
Zum anderen blicken wir auf eine heutige Elterngeneration, die sehr von unserer Leistungsgesellschaft geprägt ist. Sie will alles richtig machen und erfolgreich sein – diese Ideale werden dann auch auf die Elternschaft projiziert. Der Generation geht es nicht nur darum, irgendwie ihre Kinder großzuziehen, sondern ihren Kindern die besten Eltern zu sein.
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Wie gehen Eltern diese Herausforderung an?
Sie lesen viel, besuchen Kurse und machen sich Gedanken um Themen wie Schadstoffe, richtige Kinderernährung oder die beste Kita. All das geschieht aus sehr viel Liebe und Fürsorge, verursacht im Gegenzug aber einen wahnsinnigen Druck. Wir sprechen hier von einem Perfektionismus, an dem man nur scheitern kann. Auf der einen Seite verfügen die Eltern über ein immenses pädagogisches Wissen, auf der anderen Seite wächst in ihnen eine Angst heran, gewisse Dinge nicht gut genug zu machen.
In diesem Zusammenhang fällt immer wieder der Begriff "bedürfnisorientierte Erziehung". Was genau versteht man darunter?
Der Begriff der Bindungs- und Bedürfnisorientierung schwappte vor rund 20 Jahren nach Deutschland. Die Idee, die dahintersteckte, war, Eltern dafür zu sensibilisieren, was Kinder brauchen. Daraus ist in den vergangenen Jahren resultiert, dass Eltern zwar wahnsinnig viel über ihre Kinder wissen, ihre eigenen Bedürfnisse jedoch sehr zurückstellen.
Liegt hier also ein Missverständnis seitens der Eltern vor?
Viele Eltern haben die Bedürfnisorientierung zwar zu einem Leitprinzip erhoben, interpretieren dieses aber so, als müsse ihr gesamter Alltag ausschließlich um die Bedürfnisse ihrer Kinder kreisen. Sie möchten ihren Kindern Frust ersparen, jedes Gefühl achtsam begleiten, Wutanfälle wegatmen – das ist nicht nur anstrengend, sondern schlichtweg nicht zu leisten. Auch für die kindliche Entwicklung ist das nicht förderlich.
Jedes Kind wünscht sich Interesse und Zugewandtheit von den Eltern, dennoch müssen Kinder auch eine Frustrationstoleranz und Grenzen erlernen. Auch Eltern sind Menschen mit Bedürfnissen – umso wichtiger ist das Aushandeln zwischenmenschlicher Beziehungen. Doch genau das geht in dem Bindungsperfektionismus vieler Eltern häufig verloren. Mein Buch "Bindung ohne Burnout" ist letztlich auch mein Weg, den Eltern in Erinnerung zu rufen, dass Bindungsorientierung kein elitäres Förderungsprogramm ist, bei dem man alles perfekt machen muss.
Vielmehr sprechen wir von einer Grundhaltung, die davon getragen ist, dass wir alle Menschen mit Bedürfnissen sind. Und ein Familienleben kann nur davon leben, dass versucht wird, alle Bedürfnisse einigermaßen gut unter einen Hut zu bekommen.
Ich kann mir vorstellen, dass Eltern, die bedürfnisorientiert erziehen, sich häufig mit Reaktionen wie "Ihr müsst aber auch mal Grenzen setzen" konfrontiert werden. Ist das so? Setzen diese Eltern wirklich keine Grenzen?
An diesem Punkt müsste man zunächst einordnen, was es überhaupt bedeutet, Grenzen zu setzen. Ich denke, dass bindungsorientierte Eltern unbedingt Grenzen wahren müssen und die meisten tun das auch. Hier kommen auch die unterschiedlichen Generationen ins Spiel: Vor allem die ältere Generation verbindet mit Grenzen häufig eine Form der Härte und Bestrafungen.
Bindungsorientierte Elternschaft hingegen ist per Definition eine Elternschaft, die ohne Strafen auskommen und die Kinder nicht sanktionieren will. Denn hinter jedem Verhalten der Kinder steht ein Bedürfnis – das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass jedes Kind auch immer das bekommt, was es will.
Bei den Grenzen einer bindungsorientierten Elternschaft geht es also beispielsweise darum, einem Kind zu erklären, dass nun keine weiteren Geschichten mehr vorgelesen werden, es aber zu trösten, wenn es deswegen traurig ist. Auch Studien belegen, dass diese Form von Grenzsetzung gesund ist.
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Auf die autoritärer geprägte Generation wirkt diese Form der Erziehung trotzdem häufig nach Verwöhnen …
Ja, diese Generation empfindet die bindungsorientierten Elternschaft häufig als inkonsequent. Dabei werden ja Grenzen gesetzt – nur finden sie eben weicher und sanfter statt.
Während in der autoritären Erziehung also häufig das Prinzip "Bloß nicht nachgeben" herrscht, kann in bindungs- und bedürfnisorientierter Erziehung durchaus nachgiebiger gehandelt werden. Bedeutet: Wird etwa eine Grenze gesetzt, gegen die das Kind aber ein schlüssiges Argument aufbringen kann, dürfen sich die Eltern auch umstimmen lassen. Dieses Vorgehen sorgt natürlich für viele Generationenkonflikte.
Viele der heutigen Eltern sind ja selbst autoritär erzogen worden. Kollidiert diese Erziehung mit dem Bestreben, bei ihren eigenen Kindern unbedingt alles richtig machen zu wollen?
Gerade Menschen, die selbst autoritär groß geworden sind, haben oft eine große Versagensangst, die ihnen gewissermaßen in unserer Leistungsgesellschaft antrainiert worden ist. Häufig haben sie das Gefühl, nicht nur die Erziehung ihrer Eltern ins Gegenteil zu kehren, sondern ihren eigenen Erziehungsstil auch noch perfekt umsetzen zu müssen. Doch alte Prägungen zu überwinden, ist sehr schwer.
Insofern sollte man stets großmütig und sanft mit sich selbst bleiben. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir aus einer Generationenfolge von autoritär geprägten Menschen stammen. Wenn wir also die erste Generation sein wollen, die in Erziehungsfragen einen neuen Weg einschlägt, ist jeder Schritt wichtig, aber auch herausfordernd. Dennoch werden wir nicht von null auf hundert die perfekte gewaltfreie Erziehung umsetzen können. Aber wir können einen Grundstein legen, damit möglicherweise in sieben oder acht Generationen das Trauma der autoritären Erziehung überwunden ist.
Wir sprechen also von einem großen Teil der eigenen Prägung, um den es hier auch geht...
Richtig, gerade Eltern, die sehr autoritär geprägt sind, haben oft große Angst und reproduzieren die autoritäre Erziehung sich selbst gegenüber, indem sie sich selbst bestrafen. Sie wollen für ihre Kinder also alles anders machen, bleiben bei sich selbst aber in diesem alten Muster gefangen. Deswegen ist es wichtig, bei sich selbst anzufangen, Freundlichkeit und Sanftmut walten zu lassen.
Wie kann also bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung funktionieren?
Es fängt bei den Erwachsenen an. Bedürfnisorientierte Elternschaft braucht Erwachsene, die gut lernen, in Kontakt mit sich und ihren Bedürfnissen zu sein. So können sie im Umkehrschluss ihren Kindern den nötigen Halt geben. Bedürfnisorientierte Elternschaft braucht Mut zur Lücke, denn nicht jedes Bedürfnis kann vollends gestillt werden. Außerdem braucht bedürfnisorientierte Elternschaft den Fokus auf das Wesentliche: An Eltern sind unendlich viele Anforderungen gestellt. Umso mehr müssen sie in der Lage sein, die Beziehungsqualität als oberste Priorität zu sehen. Der gute Umgang miteinander ist das Wichtigste, danach kommt alles andere.
Welche Rolle spielen die sozialen Medien in diesem Kosmos? Eltern-Accounts oder sogenannte Mumfluencer haben große Reichweiten, vermitteln aber auch vermeintliche Idealbilder von Elternschaft…
Ich sehe darin Chance und Risiko zugleich. Als Autorin und Mutter bin ich selbst auf Instagram aktiv und schätze es sehr, anderen Menschen bestärkende Botschaften direkt in ihr Familienleben schicken zu können. Zudem ist die Kommunikation über die sozialen Medien sehr niedrigschwellig und ich möchte sie nicht mehr missen.
Gleichzeitig vermittelt Social Media aber auch den Effekt unerreichbarer Ideale. Vor allem für Menschen, die in einer vulnerablen Situation sind, sich etwa in einer Wochenbettdepression befinden oder möglicherweise auch mit ihrer Mutter- oder Vaterschaft hadern, können so in ein tiefes Loch gerissen werden, weil sie mit der Inszenierung eines perfekten Familienlebens konfrontiert werden.
Meiner Meinung nach passiert hier viel Unethisches, indem manche Accounts vermeintlich unerreichbare Bilder kreieren und im nächsten Moment überteuerte Coachings an verzweifelte Eltern verkaufen, in denen das mutmaßliche Geheimnis des Familienlebens verraten wird.
Was raten Sie Eltern in diesem Fall?
Die eigene Timeline sorgfältig zu kuratieren und nur Profilen zu folgen, die einen bestärkenden und positiven Effekt ausüben. Accounts, die zu perfekt oder in der Ansprache beschämend oder abwertend sind, sollten aussortiert werden. Das mündige erwachsene Ich muss auf Social Media sehr stark sein. Nur wir selbst können entscheiden, welcher Kanal gut tut.
Über die Gesprächspartnerin
- Nora Imlau ist vierfache Mutter und gilt als Vertreterin der bindungs- und bedürfnisorientierten Elternschaft. Als Erziehungsexpertin verfasste sie mehrere Bestseller, ihr Erziehungsratgeber "Bindung ohne Burnout – Kinder zugewandt begleiten ohne auszubrennen" ist im Februar erschienen.
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