Vertrauen und Verbundenheit zur Kirche schwinden und mit ihnen die Mitglieder: Noch nie sind so viele Menschen ausgetreten wie im vergangenen Jahr. Sie sparen sich nun die Kirchensteuer. Ein Kirchenaustritt hat allerdings weitere Folgen – persönliche und gesellschaftliche.
Diesen Sommer hat er sie also überholt: Der ADAC verfügt nun über mehr Mitglieder (21,4 Millionen) als die katholische Kirche in Deutschland (20,9 Millionen). Noch nie sind so viele Katholiken ausgetreten wie im vergangenen Jahr. Allein 2022 verließen mehr als eine halbe Million Menschen die katholische Kirche, die Zahl der evangelischen Kirche schrumpfte um rund 380.000 auf 19,1 Millionen.
Missbrauchsskandale und der Umgang damit, Kirchensteuer, schwindender Glaube gehören in dieser Reihenfolge zu den Hauptmotiven, wie jüngst eine YouGov-Umfrage zeigte.
Welche Konsequenzen aber hat ein Austritt noch außer dem Entfall der Kirchensteuer? Viele befassen sich erst damit, wenn nach diesem Schritt – der in der Regel beim Standes- oder Einwohnermeldeamt erfolgt – ein Brief ins Haus flattert. Darin drückt die Kirche nicht nur das Bedauern über den Austritt aus, sondern es wird auch das Kirchenrecht erklärt: Ausgetretene können keine Sakramente mehr empfangen und nicht mehr Tauf- oder Firmpate werden. Auch kirchlich heiraten soll für Ausgetretene nicht mehr möglich sein, ebenso besteht kein Anspruch auf ein evangelisches oder katholisches Begräbnis.
Kein kirchliches Begräbnis mehr: "Man muss im Einzelfall miteinander reden"
Grundsätzlich gilt in der Kirchenlehre allerdings: Getauft ist getauft, und Getaufte bleiben Christen, ein Austritt aus der evangelischen oder katholischen Kirche kann das nicht rückgängig machen. Häufig war sich der Verstorbene der Konsequenzen seines Austritts auch gar nicht bewusst, wie Angehörige glaubhaft schildern. Und sie trifft nicht selten in ihrer Trauer die Nachricht tief und unerwartet, dass dem Verstorbenen kein kirchliches Begräbnis zusteht.
In der Praxis bedeutet das: "Man muss immer im Einzelfall miteinander reden", sagt Monsignore Thomas Schlichting, Priester und Ordinariatsdirektor im Erzbistum München und Freising, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Gelebte Wirklichkeit sieht oft anders aus, als man es kirchenrechtlich fassen kann. Wir sind als Seelsorger nicht nur für eine Beerdigung zuständig, sondern auch für die Begleitung der Angehörigen", erklärt er. Es gelte dann in Einzelgesprächen auszuloten: Was war der Wille des Verstorbenen?
"Wenn klar ist: Diese Person wollte kein katholisches Begräbnis, gibt es immer noch Möglichkeiten, für die Angehörigen da zu sein. Ich habe beispielsweise auf Wunsch der Familie auch schon in Zivil bei Trauerfeiern gesprochen – den Verstorbenen aber nicht als den großen Gläubigen dargestellt, weil er das nicht war und das auch nicht gewollt hätte", beschreibt er. "Für Angehörige kann es aber ein Trost sein, wenn der ihnen vertraute Pfarrer den Verstorbenen würdigt, seine Menschlichkeit etwa, sein Band zur Familie."
Wie Seelsorger versuchen, verschiedenen Situationen gerecht zu werden
Weil jeder einzelne Fall eben anders sei, seien die Gespräche mit den Hinterbliebenen so wichtig. Schlichting erinnert sich an einen tragischen Fall: Eltern, die im Glauben verwurzelt und der Kirche immer verbunden geblieben waren, trauerten um ihre 20-jährige Tochter, die bei einem Unfall tödlich verunglückt war. Sie war nicht mehr Mitglied der Kirche. "Es war natürlich eine schreckliche Situation für die Familie und wäre aufgrund aller Umstände sehr schwierig gewesen zu sagen, man verweigert hier ein kirchliches Begräbnis".
Anders wieder der Fall einer Schülerin, in deren Kollegstufe Schlichting selbst unterrichtete: "Sie hatte immer wieder auch gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern kundgetan, dass sie nicht mehr in der Kirche sein möchte", schildert Schlichting. Die Schüler organisierten eigenständig eine nicht-katholische Feier, für die sie sich aber eine Kirche als Rahmen wünschten: "Also stellten wir die Kirche zur Verfügung, so war das Gedenken im Sinne der Schüler würdiger, als es auf dem Schulhof möglich gewesen wäre."
Die kirchenrechtlichen Konsequenzen einerseits, das Anliegen, Menschlichkeit zeigen: Die Seelsorger versuchen, dem gerecht zu werden. "Das Signal ist auf jeden Fall: Wir bleiben auch für die Ausgetretenen da", sagt Schlichting. Schließlich werde bei diversen Angeboten der Kirche – beispielsweise Seelsorge in Kliniken – nicht danach gefragt, ob jemand der Kirche angehöre oder nicht.
Heiraten: Was, wenn nur noch einer von beiden Mitglied der Kirche ist?
Keinen Spielraum gibt es allerdings, wenn zwei Ausgetretene kirchlich heiraten möchten. Anders gestaltet es sich schon, wenn einer der beiden der Kirche angehört und Wert auf eine kirchliche Trauung legt. Hierfür muss der trauende Priester oder Diakon die Erlaubnis beim Ortsordinarius einholen.
Eine wichtige Aufgabe des Seelsorgers sei es dann, zu vermitteln und beiden gerecht zu werden: "Es wäre nicht sinnvoll, eine Feier überzustülpen. Man muss sich verständigen. Denn das Paar muss auch in der Ehe mit dieser Situation umgehen, dass einer von beiden im Glauben verwurzelt ist und der andere nicht. Man versucht dann, ein Abbild dessen, wie das Paar zusammenleben möchte, auch für die Feier zu finden", erläutert Schlichting.
Denkbar sei ein Wortgottesdienst mit Elementen, in denen sich auch der Nicht-Glaubende wiederfinde: "Das ist meistens ein guter Weg, denn jeder hat eigentlich etwas, das ihm wichtig ist und das über die zeitlichen Dinge hinausgeht."
Taufe des Kindes unter Umständen möglich
Was auch nicht selten vorkomme: Eltern, die keine Mitglieder der Kirche sind, wollen ihr Kind katholisch taufen lassen. Laut der Deutschen Bischofskonferenz ist das möglich, wenn "die begründete Hoffnung besteht, dass das Kind in der katholischen Religion erzogen wird". Schlichting hilft in solchen Fällen dabei, jemanden aus der Familie oder Gemeinde zu finden, der das Patenamt für das Kind übernehmen und den religiösen Weg des Kindes begleiten kann. Wer übrigens Wiedereintreten möchte in eine der beiden Kirchen, muss sich nicht noch einmal taufen lassen, da eben das Sakrament der Taufe nicht erlischt.
Dass viele sich der Konsequenzen eines Austritts erst bewusst werden, wenn der Schritt schon getan ist, ist für die Kirchen ein großes Thema. Deswegen drängen sie darauf, die Menschen besser zu informieren. Das betrifft auch die Verwendung der – in Deutschland sehr hohen und deshalb auch hochumstrittenen - Kirchensteuer. Der Steuersatz liegt bei neun, in Bayern und Baden-Württemberg bei acht Prozent der zu zahlenden Einkommenssteuer. Mit 43 Prozent sagt fast die Hälfte der noch in der Kirche verbliebenen Christinnen und Christen, das könnte sie zum Austritt bewegen.
Die Evangelische Kirche verweist deshalb auf ihrer Homepage auch auf die Folgen eines Austritts für die Gesellschaft. Zu den kirchlichen Tätigkeiten, finanziert durch die Kirchensteuer, gehöre die "Seelsorge in privaten und beruflichen Krisen und bei Schicksalsschlägen, vielseitige Bildungsangebote für Kinder, Erwachsene und Senioren, die Flüchtlingshilfe sowie der Kampf gegen Armut, Ausgrenzung und die diakonische und karitative Arbeit." Die Kirche sei eine "wichtige Säule der Gesellschaft".
Schlichting erinnert auch an Nothilfe- und Katastrophenfonds (etwa für die Ukraine, Erdbebenopfer in der Türkei und Dürreopfer in Afrika), die Mitglieder mit ihrer Kirchensteuer finanzieren. "Die Angst, die ich habe, ist gar nicht, dass die Kirche verschwindet", bemerkt er, "sondern dass unsere Rolle als verlässlicher Kooperationspartner des Staates verschwindet." Ein staatliches Monopol etwa bei Schulen und Kitas hielte er nicht für gut: "Eine Vielfalt bei den Trägern ist ein Beitrag zur Vielfalt der Meinungen. Damit tun sich auch einige innerhalb der Kirche schwer", schließt er, "aber sie ist wichtig für unsere Gesellschaft."
Zur Person:
- Monsignore Thomas Schlichting ist Ordinariatsdirektor und leitet das Ressort Seelsorge und kirchliches Leben im Erzbistum München und Freising. Monsignore ist die Anrede für einen Priester der römisch-katholischen Kirche, dem ein päpstlicher Ehrentitel verliehen wurde.
Verwendete Quellen:
- Evangelische Kirche in Deutschland: Kirchenaustritt
- Statista: Umfrage "Welche Gründe könnten Sie zum Austritt aus der Kirche bewegen?"
- Informationen der Vereinigten Lohnsteuerhilfe e.V. zum Kirchenaustritt
- dpa
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