Karlsruhe/Stuttgart - Die evangelischen Landeskirchen wollen im neuen Jahr die Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt vorantreiben.
Im März sollen die Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen (URAK) mit der Arbeit beginnen. Zu den Aufgaben zählt es unter anderem, Betroffene zu hören, Fälle zu erheben, den Umgang damit zu analysieren und Strukturen zu identifizieren, die sexualisierte Gewalt ermöglichen.
"Es geht nicht um den Schutz der Institution", betonte die Landesbischöfin der evangelischen Landeskirche in Baden, Heike Springhart, in Karlsruhe. "Es geht um den Schutz der Betroffenen."
Fachleute und Betroffene sollen mitwirken
Die Badener bilden mit der Pfalz einen von bundesweit neun URAK-Verbünden, die Württemberger einen eigenen - jeweils für die entsprechenden Landeskirchen und die Diakonischen Werke. Wichtig ist aus Springharts Sicht, dass sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) auf gemeinsame Standards verständigt hat.
Damit die Gremien unabhängig arbeiten können, führen die beiden Landeskirchen im Südwesten noch Gespräche mit externen Expertinnen und Experten, die in den Kommissionen mitarbeiten sollen. Springhart erklärte, die Landesregierung habe mögliche Fachleute benannt. Auch aus dem Kreis der Betroffenen sollen jeweils Menschen in den URAK mitwirken.
"Nicht nur ein Problem der anderen"
Anfang 2024 war eine von der EKD initiierte Studie zu sexualisierter Gewalt und Missbrauch in der evangelischen Kirche veröffentlicht worden. Diese geht deutschlandweit von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern aus, die aber nur die Spitze des Eisbergs seien.
Die Studie hat aus Springharts Sicht noch einmal offenbart, dass der Umgang mit sexualisierter Gewalt ein Problem sei - und "dass das nicht nur ein Problem der anderen ist". In der evangelischen Kirche ist das Thema allerdings später als in der katholischen Kirche öffentlich diskutiert worden. Auch wurden teils erhebliche Verzögerungen bei der Aufarbeitung moniert.
"Wir arbeiten an einem Kulturwandel", sagte Springhart. Aber selbst wenn Maßnahmen umgesetzt würden, dürfe man nicht davon ausgehen, dass damit alles erledigt sei. "Es bleibt eine Herausforderung."
Hohe Dunkelziffer vermutet
Die badische Landeskirche hatte im Rahmen der Studie nach Aktenlage 178 betroffene Personen gemeldet. Nach der Veröffentlichung seien zwölf neue Meldungen hinzugekommen, so dass sich die Gesamtzahl der Betroffenen von sexualisierter Gewalt auf 190 Personen erhöht hat. 73 davon werden nach Angaben eines Sprechers dem Bereich der evangelischen Landeskirche zugerechnet, 92 der Diakonie Baden. Bei 25 ist die Zuordnung unbekannt.
Aus Sicht von Landesbischöfin Springhart haben die Zahlen aber nur eine relative Bedeutung: "Wir haben keine Dunkelfeldstudie." Das seien nur die Fälle, die aktenkundig seien, machte sie deutlich.
Zahlungen an Betroffene
Bis zum 5. November hätten in Baden 65 Personen Anträge bei einer Anerkennungskommission eingereicht, teilte der Sprecher mit. Ausbezahlt worden seien 335.000 Euro als Anerkennungsleistungen (einmalige finanzielle Zuwendungen und Therapiekostenerstattungen). Hinzu kämen individuelle Unterstützungsleistungen in besonderen Notlagen von in Summe 114.000 Euro.
Die württembergische Landeskirche verweist auf 26 Personen, deren Anträge bewilligt worden seien (Stand November). 530.000 Euro wurden demzufolge allein im Bereich Kirche als Anerkennungsleistungen gezahlt. Das seien in der Regel 20.000 Euro pro Person in drei Tranchen, erklärte ein Sprecher in Stuttgart. Bei den Unterstützungsleistungen gehe es um jeweils bis zu 10.000 Euro. Hier belaufe sich die Summe im Bereich der Kirche auf 63.122 Euro.
In der evangelischen Landeskirche in Württemberg insgesamt wurden an alle Betroffenen - also auch aus dem Bereich der Diakonie - an Leistungen sowie etwa für Therapien zusammen 4,4 Millionen Euro gezahlt, wie der Sprecher erklärte. Bei individuellen Unterstützungsleistungen seien es 663.521 Euro.
Es sei schwer, individuelles Leid und pauschale Leistungen ins Verhältnis zu setzen, sagte Landesbischöfin Springhart. Bei schwerwiegenden Fällen sei mit hohen Summen zu rechnen. Dafür müssten die Kirchen Rücklagen bilden. Vor allem dürfe niemand versuchen, die Zahlungen kleinzuhalten, mahnte sie. © Deutsche Presse-Agentur
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