Die Ratten haben bereits Namen. "Ingrid, Helmut, Bruno …", sagt Daniela Starke. Ihre Nachbarin, Kirsten Henschke, sitzt neben ihr und sagt: "Die vermehren sich ja wahnsinnig schnell.

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Das glauben Sie nicht." Zu fünft haben sie sich versammelt im Wohnzimmer von Daniela Starke und ihrem Mann Michael. Sie alle wohnen hier und gehören zur Mieterinitiative Neu-Tempelhof. Sie sind gekommen, um ihre Liste mit Baumängeln zu vervollständigen. Eine lange Liste.Von draußen dringt der Lärm herein, denn draußen wird gearbeitet, die Siedlung wird seit mehr als einem Jahr saniert. Draußen strahlt auch eine helle späte Sommersonne am Himmel, aber in der Wohnung der Starkes ist es recht dunkel, fast düster. Bauplanen hängen vor den Fenstern. "Im Sommer haben die Planen die Wohnung immerhin kühl gehalten", sagt Starke. Ihre Initiative hat sich vor anderthalb Jahren zusammengeschlossen, damals wurden kurzfristig umfangreiche Modernisierungsarbeiten in der denkmalgeschützten Siedlung in Berlin-Tempelhof angekündigt.

Seither ist die Siedlung beherrscht vom Lärm, aber vor allem von Dreck, die Mieter sind von der Bürokratie frustriert, sie müssen auf einer Baustelle leben und fühlen sich übergangen. In dem Quartier leben 590 Mietparteien, mehr als 200 von ihnen, vor allem aus den Häusern, die zuerst saniert werden, haben den Offenen Brief der Initiative unterschrieben.

"Wenn wir das Haus betreten oder verlassen, müssen wir an Dutzenden Ratten vorbei", sagt Daniela Starke. Die Ratten sitzen ganz ruhig im Dreck und fühlen sich im Chaos der Baustelle offenbar wohl. Ingrid, Helmut, Bruno …

Der Berliner Mieterverein betreut die Initiative. Daniela Starke erklärt, dass vor allem die älteren Leute in der Siedlung in der Initiative aktiv seien. "Wir sprechen aber für alle Mieter: Wir älteren können uns die Zeit nehmen, anders als viele Leute, die jünger sind und noch voll im Berufsleben stehen", sagt die 68-Jährige.

Starke bittet Wolfgang Henschke, das Fenster hinter ihm zu öffnen. Sie wolle rauchen. Er antwortet: "Das verkürzt deine Lebenserwartung." In scheinbar erprobter Manier antwortet sie: "In meinem Alter ist das nur noch Genuss." Als Henschke meint: "Dann erlebst du nicht mehr das Ende der Sanierung", sagt die 68-Jährige: "Aber dann werden die bei der Beerdigung ja ihren Bauschutt los." Sie lacht.

Die Modernisierungsarbeiten an den 53 Häusern der 90 Jahre alten Siedlung und ihren 590 Wohnungen erfolgen in mehreren Bauabschnitten. Die Arbeiten sollen im Juni 2027 fertiggestellt werden; allerdings kam es schon früh zu Bauverzögerungen.

Die Siedlung am Bayernring zu Beginn der Baumaßnahmen im vergangenen Jahr.
Die Siedlung am Bayernring zu Beginn der Baumaßnahmen im vergangenen Jahr. © Emmanuele Contini/Berliner Zeitung

Zu den Modernisierungsarbeiten heißt es auf der Webseite der landeseigenen Stadt und Land Wohnbauten-Gesellschaft, die Maßnahmen im Quartier westlich des Tempelhofer Feldes "führen im Ergebnis zu einer Einsparung von Energie in Höhe von 33 Prozent". Fassaden, Keller und Dach würden neu gedämmt, auch eine Badmodernisierung sei vorgesehen.

Der angelieferte Dämmstoff ist aus dem Küchenfenster der Starkes zu sehen – aufgestapelt und nur teilweise in Plastik gewickelt, liegt er im Kies des Innenhofs. Dort lag er auch während des Starkregens der letzten Wochen, erzählen die Mieter. Sie hätten Stadt und Land darauf angesprochen und unterschiedliche Antworten erhalten: einmal sei das Nasswerden des Dämmstoff kein Grund für Bedenken; dann hieß es: Der nasse Dämmstoff werde nicht verbaut. "Selbst untereinander scheinen die nicht zu kommunizieren", sagt Daniela Starke.

Im Wohnhaus der Starkes, das aktuell sechs Tage die Woche von Baustellen-Treiben umgeben ist, wohnen eigentlich neun Mietparteien. Sie sind eine der fünf Parteien, die sich weigern, für die Modernisierungsarbeiten auszuziehen. Stadt und Land droht, jeden einzelnen von ihnen zu verklagen.

Für sie und ihren Mann Michael, der einen Rollstuhl benutzen muss, erklärt Starke, müsse eine Umsetzwohnung bestimmten Anforderungen entsprechen, um barrierefrei oder barrierearm zu sein. "Uns wurde gesagt, wir sollten von unseren Ansprüchen ein wenig zurückgehen. Aber das sind keine Ansprüche, sondern Bedarfe, ohne die wir nicht unseren Alltag bewältigen und unser Leben normal leben können." Nun hoffen sie, dass sie bleiben können und dass es zu keinen Arbeiten in ihrer Wohnung kommt.

Für ihre Erdgeschosswohnung bezahlen Daniela und Michael Starke auf 108 Quadratmetern 860 Euro warm – noch. Nach der Modernisierung wäre ihre Miete um ein Drittel teurer. Das sei "viel Geld" sagen die Rentner und fügen ironisch an: "In der nahen Zukunft können wir nicht mit einer Gehaltserhöhung rechnen." Die Wohnung, in der sie ihre vier Kinder großgezogen haben, sei für sie eigentlich zu groß. Allerdings würden sie mit WBS für eine neu vermietete 60 Quadratmeter große Wohnung in der Siedlung die gleiche Miete zahlen. Daniela Starke sagt: "Wenn ich von den Mietpreisen höre, frage ich mich, was ist denn das für ein Wahnsinn? Wer soll das bezahlen?"

Sie müsse an finanziell benachteiligte Familien mit mehreren Kindern denken, die große Wohnungen bräuchten. Auch bei den städtischen Wohngesellschaften werde "nur der noch vorhandene Mittelstand berücksichtigt und dadrüber", sagt sie.

Die Siedlung befindet sich westlich des Tempelhofer Feldes.
Die Siedlung befindet sich westlich des Tempelhofer Feldes. © imago

Während die Wohnung, in der Kirsten und Wolfgang Henschke seit 1985 wohnen, modernisiert wird, leben sie aktuell in einer Umsetzwohnung, ihre eigenen Möbel sind eingelagert. Wolfgang Henschke erzählt: "Wir haben ’ne Anbauwand aus Umzugskisten, aber ich hab sie so aufgestellt, dass das schon irgendwie cool aussieht."

Kirsten Henschke, die in der Siedlung aufwuchs, sagt, die von der Mieterinitiative erkämpfte Mietminderung würde zwar vielen finanziell weiterhelfen. "Aber man kommt sich auch untereinander in die Haare, es fetzt sich unter den Ehepaaren, weil man ja nur noch ein Thema hat. Dafür gibt es keinen Ausgleich – und das interessiert auch nicht."

Einige ihrer Nachbarn sind bereits in ihre fertiggestellten Wohnungen zurückgezogen. Wolfgang Henschke betreut für die Mieterinitiative eine Liste der von den Mietern festgestellten baulichen Mängel, darunter oftmals Schimmel, Verschmutzung und Schäden in den Wohnungen. "Manche Keller sind seit der Modernisierung wie Schwimmbäder", sagt Henschke und spricht von Bau-Pfusch. Einer Nachbarin seien bei ihrer Wohnungsbesichtigung vor dem Rückzug 43 Mängel in ihrer Wohnung aufgefallen.

Der 68-Jährige sagt: "Gegen Instandhaltung hat hier keiner etwas, aber hier werden mit viel Pfusch auch Modernisierungsarbeiten durchgezogen, die gar nicht notwendig sind und eher wie Sparmaßnahmen wirken. Und wir sollen das dann alles teuer bezahlen." Er befürchtet, die Umbauten seien auch ein Mittel, um Mieter "mit den alten, guten Mietverträgen mürbe zu machen". Immer wieder fällt das Wort Gentrifizierung. Aber Umziehen sei für ihn keine Option. "Du kriegst ja nicht mal was im Umland."

Offenes Dämmmaterial in einem Innenhof der Siedlung: Die Mieter erzählen, es sei bei Regen nass ...
Offenes Dämmmaterial in einem Innenhof der Siedlung: Die Mieter erzählen, es sei bei Regen nass geworden. © Laurenz Cushion/Berliner Zeitung

Auch Jessica Rollin, die seit 1997 in der Siedlung lebt, befürchtet, Stadt und Land wolle bei den Mietpreisen "alles ausreizen, was geht". Die 42-jährige Mutter engagiert sich auch in der Mieterinitiative, sie ist vor allem von der Kommunikation mit der Wohnbaugesellschaft frustriert: "Man bekommt keine Antwort. Es wird toter Mann gespielt."

Die Pressestelle der Stand und Land erklärt: "Die Modernisierungsmaßnahme stellt für alle Beteiligte eine große Herausforderung dar." Trotzdem sei das Ziel, "Anliegen schnell zu lösen und Einschränkungen zu minimieren". Bei bekanntwerdenden eines Schädlingsbefalls in den Außenanlagen werde umgehend eine Schädlingsbekämpfung beauftragt; bei Schimmelbefall werde umgehend die Ursache geprüft und Maßnahmen zur Bekämpfung eingeleitet.

Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen erklärt auf Anfrage, die Modernisierungs- und Instandsetzungsmaßnahmen "erfolgen unter Einhaltung aller gesetzlichen Rahmenbedingungen" und "stellen einen wichtigen Beitrag zur Dekarbonisierung des Bestandes der landeseigenen Wohnungsunternehmen dar".

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Die Behörde spricht von einer "Transformation der Wohnungsbestände". Da sei eine wirtschaftlich herausfordernde Aufgabe, die "auch den Mieterinnen und Mietern in ihrer persönlichen Wohnsituation langfristig zugutekommt". Die Mieter allerdings haben an dieser Sicht wirklich große Zweifel. Sie wollen weiterkämpfen und vervollständigen erst mal weiterhin die lange Mängelliste.  © Berliner Zeitung

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