Bundesweit steigt die Zahl von Messerangriffen, in Berlin sind es im Schnitt zehn pro Tag, das ist bundesweit der höchste Wert auf die Einwohnerzahl gerechnet.

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Außerdem wurde in Berlin zuletzt immer wieder auf offener Straße scharf geschossen – in dieser Woche in Berlin-Gesundbrunnen und in der Vorwoche in der Bülowstraße. Dort wurde aus einem Auto heraus ein 42-Jähriger angeschossen, der später starb. Ein Gespräch mit der Polizei- und Kriminalpsychologin Janine Neuhaus über die Gründe für Waffengewalt und darüber, ob es eine Bewaffnungsspirale gibt.

Frau Neuhaus, führt eine steigende Messerkriminalität auch dazu, dass einige sich schwerer bewaffnen wollen?

Ja, das ist ein großes Problem. Viele Jugendliche denken: Wenn ich mich bewaffne, dann kann ich mich schützen. Es ist eine Gefahr, dass das jetzt zunimmt. Auch in dem Bereich ist eine Präventionsarbeit und Aufklärung wichtig: Kindern und Jugendlichen schnell den Zahn zu ziehen, dass sie sicherer sind, wenn sie Waffen tragen. Denn eine Waffe kann auch schnell gegen einen selbst gerichtet werden. Die Polizei Berlin bietet ein Aufklärungsprogramm zur Gefahr von Bewaffnung und Messern an, das von Schulen sehr nachgefragt ist. Das ist für mich ein Zeichen dafür, dass das an vielen Schulen leider ein großes Thema ist.

Zuletzt gab es auch Schießereien in Berlin – spielen neben Messern auch Schusswaffen eine immer größere Rolle?

Also "Schusswaffen" klingt schon immer nach Organisierter Kriminalität. Einige junge Menschen sehen darin eine Perspektive, wo ihnen die Gesellschaft vielleicht keine andere Perspektive bietet. Für kurzfristige Lösungen wird da die Expertise der Kriminologie und Polizei gefragt sein, aber langfristig würde ich aus psychologischer Sicht sagen, hat das auch damit zu tun, dass wir Kinder jeglicher Herkunft und Milieus besser erreichen müssen, um ihnen andere gesellschaftlich-wünschenswerte Wege aufzuzeigen, wie sie zu Geld oder Anerkennung kommen.

Aber könnten in der Bewaffnungsdynamik, die Sie beschreiben, Schusswaffen der nächste Schritt sein?

Das erinnert mich ein bisschen an die Diskussion, ob es Einstiegsdrogen gibt und man dann zu härteren Drogen übergeht. Natürlich desensibilisiert Gewalt, je mehr man sie sieht oder auch ausübt. Gleichzeitig, um wirklich an eine Schusswaffe zu kommen – was bei uns in Deutschland ja Gott sei Dank noch immer sehr schwierig ist –, muss man sich schon in extrem suspekten Kreisen bewegen. Die große Gefahr eines generellen Anstiegs von Schusswaffengewalt sehe ich nicht. Da sind sicherlich unsere strikten Waffengesetze hilfreich. Bei Messern ist natürlich ein wenig anders.

Inwiefern?

Ein Messer hat im Grunde genommen jeder in seinem Küchenschrank. Es ist schwierig zu sagen, wir verbieten jetzt Messer. Eine Pistole habe ich als normaler Mensch nicht im Schrank. Wenn jemand mit der Intention loszieht, jemandem mit einem Messer zu verletzten, wird ein Verbot, es mitzuführen, ihn nicht aufhalten. Ein Messerverbot halte ich für Symbolpolitik, weil es die ursächlichen Problemlagen nicht beeinflusst.

Nimmt die Waffengewalt tatsächlich zu oder wird nur häufiger darüber berichtet?

Es ist natürlich die Frage, welchen Zeitraum man anlegt und ob man Hellfeld- oder Dunkelfeld-Daten betrachtet, also offizielle Statistiken wie die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik, die von der Anzeigebereitschaft abhängig sind, oder Zahlen aus sogenannten Opferbefragungen. In der Gesamtentwicklung sehen wir in den letzten Jahrzehnten, wenn wir einen langen Zeitraum betrachten, eine deutliche Abnahme von körperlicher Gewalt und auch Waffengewalt. Aber was wir natürlich auch merken und auch in den Daten der Polizei registriert wird, ist, dass wir in Berlin seit der Pandemie eine Zunahme an Gewalt vor allem auch mit Messern beobachten. Und zwar auch gerade im Kinder- und Jugendbereich und an den Schulen.

Es ist also nicht eine Frage der Wahrnehmung?

Die meisten werden sagen, sie erleben den Anstieg auch subjektiv. Ich arbeite mit Lehrkräften zusammen im Bereich der Gewaltprävention, die oft berichten, dass die Gewalt in den letzten Jahren zugenommen hat. Gerade Kinder und Jugendliche waren in den letzten Jahren vielen Belastungen ausgesetzt und es gibt allgemein einen sehr starken gesamtgesellschaftlichen Druck. Wir haben im Moment vielfältige Problemlagen, die auf die Gesellschaft einwirken und sich kumulieren. Es ist zu befürchten, dass das im Moment zu einem Anstieg von Gewalt führt.

Welche Belastungen meinen Sie?

Den Ukrainekrieg, die Klimakrise, den Nahostkonflikt. Wir hatten zudem natürlich die Pandemie, einhergehend mit den Lockdowns und Schulschließungen. Dann die Inflation und finanzielle Nöte. Sorgen vielfältiger Art, die die Menschen wirklich bewegen und Existenzängste, die damit einhergehen. Das ist eine gefährliche Mischung. Dazu kommt Druck seitens des Berliner Haushalts und geplante Einsparungen. Da ist natürlich klar, wo gespart wird – vor allem in sozialen Bereichen. Und obwohl immer wieder versichert wird, es wird nicht im Bereich Sicherheit gespart, ist zu befürchten, dass es auch hier zu Einsparungen kommt. Wenn das mit immer weniger Angeboten im gesundheitlichen und sozialen Bereich einhergeht, werden natürlich die gesellschaftlichen Probleme und damit auch die Gewaltvorfälle steigen. Und wir werden nicht angemessen reagieren können.

Warum sorgen solche Belastungen für steigende Gewalt?

Für mich ist das ein Signal, dass in unserer Gesellschaft etwas kocht. Die Spannungen brauchen ein Ventil und das mündet häufig in Gewalt.

Sie sehen es also mehr als ein Symptom?

Es ist immer ein Symptom! Die Menschen kommen ja nicht gewalttätig zur Welt. Gewalt entsteht bei Menschen in komplexen Risiko- und Problemlagen. Häufig sehen wir, dass Gewalt von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen ausgeht, weil sie häufig weniger gefestigt sind in ihrer Identität und verletzlicher sind.

Können Sie mehr zu den Tätern sagen?

Ja, man kann immer typische Tätermerkmale beschreiben, die für sich genommen aber keine Erklärungen bieten. Das macht natürlich die Gesellschaft, wenn sie sich auf äußere Merkmale bezieht und beispielsweise die ethnische Herkunft eines Täters als ursächlich betrachtet. Dann habe ich eine schnelle und einfache Antwort. Wenn wir schwere Gewalttaten erleben, gibt es das Bedürfnis der Gesellschaft, einfache Antworten und schnelle Erklärungen zu finden. An Solingen wird das deutlich. Die Tat wird schnell mit der Herkunft des Täters, dem Fluchthintergrund und der ausgebliebenen Abschiebung erklärt. Dann wird auch eine schnelle, einfache Lösung präsentiert. Es wird nicht weiter und tiefer erforscht, was eigentlich die Ursache von solchen Gewalttaten ist. Die Politik nutzt das, um damit Wahlen zu beeinflussen, aber es sind billige Lösungen für komplexe soziale Probleme.

Gilt eine Migrationsgeschichte als Risikofaktor?

Nicht unmittelbar, aber die soziale Situation ist im Kontext von Einwanderung und Flucht häufig doch schwieriger. Diese Menschen sind häufig von einer Reihe an Risikofaktoren bedroht, die auf "einheimische" Kinder und Jugendliche nicht oder in geringerem Ausmaß zutreffen. Zum Teil haben sie keine feste Bleibeperspektive und sind von Arbeitsverboten betroffen, das ist eine unheimliche Belastung. Wie sollen sie sich integrieren oder die Sprache lernen? Sie hängen im Nichts. Das klingt ein bisschen hart, aber wenn absehbar ist, dass Menschen kein Asyl oder Bleiberecht bekommen, dann ist es konsequent und richtig, sie nicht lange in falscher Hoffnung zu belassen und zurückzuweisen. Umgekehrt muss man Menschen, wo klar ist, sie bekommen ein Bleiberecht, schnell ermöglichen, zu arbeiten. Wenn man in Unsicherheit belassen wird, ist das eine starke psychische Belastung. Und das befördert eine Riesen-Frustration, eine Riesen-Wut und Verzweiflung.

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Was wären für Sie denn effektive, kurzfristige Maßnahmen gegen ansteigende Waffengewalt?

Also in die Prävention kann man sofort investieren. Und man müsste ganz genau und abwägend prüfen, was hier in Berlin, in Zukunft gestrichen wird. Wichtig sind Freizeitprogramme, wo Kinder etwas für ihre Anerkennung, ihren Selbstwert tun können. Sportprogramme, Freizeitclubs. Gewalt findet häufig dort statt, wo es für die Jugendlichen nichts anderes zu tun gibt. Aber bei Einsparungen schließen die Jugendclubs als allererstes.  © Berliner Zeitung

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