Zahlreichen Fahrgästen in Berlin stehen harte Zeiten bevor. Wenn Präsident Joe Biden die deutsche Hauptstadt besucht, werden wieder Züge umgeleitet, Streckenabschnitte eingestellt und Linien des Regionalverkehrs unterbrochen.

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999: So heißt ein neues Verfahren, das bei den Bahnunternehmen für Staatsbesuche seit kurzem in der Schublade liegt. Jetzt brachte Michael Wedel vom Berliner Fahrgastverband IGEB die Kritik der genervten Reisenden auf den Punkt: "Warum können die Politiker nicht im Schloss Meseberg oder am Flughafen BER tagen?", fragte er – und bekam Zustimmung."Bei Staatsbesuchen halb Berlin zuzumachen, ist an Arroganz nicht zu überbieten", sagte Wedel während des Fahrgast-Sprechtags Regionalverkehr, zu dem der Verband Dienstagabend in den Hauptbahnhof eingeladen hatte. "Es ist doch egal, wo die Politiker mit ihren Gästen Gespräche führen. Die wollen doch kein Sightseeing machen." Anders formuliert: Eigentlich müssten sie sich nicht im Berliner Stadtzentrum aufhalten.

Auch ein Manager eines Regionalzugbetreibers brachte das Gästehaus der Bundesregierung, das 70 Kilometer nördlich von Berlin im Landkreis Oberhavel liegt, als Alternative zum Regierungsviertel ins Gespräch. Er fragte, warum Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Präsidenten der Vereinigten Staaten nicht in Meseberg empfangen könne. In dem Dorf, das zu Gransee gehört, leben gerade mal 150 Menschen. Berlin hat dagegen mehr als 3,8 Millionen Einwohner. Viele von ihnen (und zahlreiche Auswärtige) sind betroffen.

Während der Ukraine-Konferenz im Juni 2024 fuhren gegenüber vom Bahnhof Zoo Einsatzfahrzeuge und ...
Während der Ukraine-Konferenz im Juni 2024 fuhren gegenüber vom Bahnhof Zoo Einsatzfahrzeuge und Räumpanzer der Polizei auf. Im Hotel Waldorf Astoria logierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. © Paul Zinken/dpa

Erst am vergangenen Freitag war ihre Geduld während des Besuchs des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auf eine harte Probe gestellt worden. Zwar wurde die Option, außer der von Ost nach West durch das Zentrum führenden Stadtbahn auch den Nord-Süd-Tunnel für den Fern- und Regionalverkehr zu sperren, dann doch nicht gezogen. Doch viele Züge wurden umgeleitet und hielten an anderen Stationen als geplant, und Regionalverkehrslinien wie die RE1 wurden unterbrochen. Der S-Bahn-Betrieb auf der Stadtbahn wurde stark ausgedünnt, um ihn jederzeit stoppen zu können.

Jetzt will Joe Biden den Deutschlandbesuch, den er wegen des Hurrikans "Milton" abgesagt hatte, wiederholen. Doch bislang steht nicht mal fest, wann der Präsident der Vereinigten Staaten ankommt und wie lange er bleibt. Bislang hieß es, dass Biden Donnerstagabend eintrifft, in einem Hotel übernachtet und nach Terminen im Bundeskanzleramt und bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) am Freitag zurückreist. Nicht ausgeschlossen ist, dass sich der Arbeitsbesuch auf den Freitag beschränkt. In jedem Fall werden die Beeinträchtigungen für viele spürbar sein. Es geht nicht nur um den Alltagsverkehr: An diesem Freitag beginnen in Berlin und Brandenburg auch noch die Herbstferien.

Die Verkehrsinformationszentrale, kurz VIZ, stimmte die Bürger schon mal auf "massive Verkehrseinschränkungen" ein – insbesondere wenn Joe Biden am Freitagabend wieder abreist. Während seines Aufenthalts sei mit Sperrungen im Bereich Potsdamer Platz, Brandenburger Tor, Schloss Bellevue sowie im Regierungsviertel zu rechnen. Im S-Bahn-Netz seien ebenfalls Einschränkungen zu erwarten, auch bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG), DB Regio, der Odeg, der NEB sowie im Fernzugverkehr.

Auch die BVG rät den Fahrgästen, sich auf dem neuesten Stand zu halten. "Die konkreten Auswirkungen werden kurzfristig und schnellstmöglich über die bekannten Kanäle veröffentlicht", sagte Markus Falkner, Sprecher des Landesunternehmens, am Mittwoch. "Fahrgäste sollten sich während des Besuchs am besten vorab kurz über ihre Linie informieren, etwa auf bvg.de, und vorsorglich etwas mehr Zeit einplanen."

Worauf sich Bahnfahrgäste einstellen müssen, ist zumindest in Grundzügen absehbar. "Für eine große Zahl von möglichen Vorkommnissen haben die Verkehrsunternehmen und der Infrastrukturbetreiber DB InfraGo Dispositionsverfahren erarbeitet", erklärte Lars Gehrke, Geschäftsführer der Ostdeutschen Eisenbahn (Odeg), während des Fahrgastsprechtags. Um schnell reagieren und die Fahrgäste informieren zu können, liegen abgestimmte Standardverfahren bereit. Die Neuigkeit lautet: Vor kurzem wurde auch für Staatsbesuche ein Reglement vorbereitet, das rasch umgesetzt werden kann.

Dispositionsverfahren 999: Das ist nach Informationen der Berliner Zeitung der Titel des Konzepts, das nun als Option bereitliegt. Dem Vernehmen nach sieht es vor, dass unter anderem die beiden wichtigsten Schienenstrecken im Berliner Stadtzentrum für den Fern- und Regionalverkehr gesperrt werden: zum einen die Stadtbahn, die in Sichtweite am Kanzleramt und am Schloss Bellevue vorbeiführt, zum anderen der Nord-Süd-Tunnel, der im Hauptbahnhof unterirdisch kreuzt.

Fernreisende werden auf andere Bahnhöfe verwiesen – dazu gehören Spandau, Gesundbrunnen und Lichtenberg. Auch Fahrgäste des Regionalverkehrs müssen sich neu orientieren. So sieht das Verfahren vor, dass die Linie RE1 geteilt wird. Nach Potsdam, Brandenburg und Magdeburg starten die Züge erst in Charlottenburg, nach Frankfurt (Oder) am Ostkreuz. Der RE8 nach Wittenberge beginnt in Lichtenberg und hält in Gesundbrunnen. Der RE8 nach Elsterwerda startet ebenfalls in Lichtenberg und stellt eine Verbindung zum BER her. Das ist die Regel – von der Ausnahmen möglich sind.

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"Im Prinzip wird der Zugverkehr vorsorglich eingeschränkt, dies jedoch in Maßen, um dennoch ein gewisses Angebot möglichst planbar und stabil sicherzustellen", sagte Heiko Miels von der Odeg am Mittwoch. "Die Herausforderung besteht dabei immer, dass der Betrieb handhabbar bleibt und nicht ins Chaos stürzt. So müssen wir auch sicherstellen, dass zum Beispiel keine Züge längere Zeit auf freier Strecke stehen bleiben." Standardverfahren wie dieses sollen dazu beitragen, dass die Fahrgäste besser informiert werden. Die meisten Ansagen lägen bereits in der Schublade, ergänzte Miels.

Mit dem neu entwickelten Dispoverfahren 999 reagieren die Akteure auf die Erfahrungen während der Ukraine-Konferenz im Juni 2024, zu der auch Selenskyj nach Berlin gekommen war. Damals drohte wirklich Chaos, weil die Bundespolizei sehr kurzfristig Betriebseinstellungen verlangte. Nur mit Mühe gelang es S-Bahnern zu erreichen, dass die Züge zumindest zum nächsten S-Bahnhof weiterfahren dürfen. Mehrmals musste der Betrieb auf der Stadtbahn und dem Ring stundenlang unterbrochen werden. Anderswo wurde "Fahren auf Sicht" verlangt – Züge kamen nur langsam voran. Weil immer wieder Probleme aufpoppten, konnten Fahrgäste nicht informiert werden.

"In einer solchen Intensität wie 2024 haben wir das Thema Staatsbesuche noch nicht erlebt", sagte Odeg-Geschäftsführer Gehrke während des Fahrgastsprechtags. "Auch uns ist natürlich klar, dass Berlin Bundeshauptstadt ist" – was bedeutet, dass Staatsgäste zu Besuch kommen. Absehbar sei auch, dass die Zahl der Besuche zunehmen wird. Doch die Region müsse weiter funktionieren. Auch ein wirtschaftliches Problem sei zu adressieren: Weil Regionalzüge ausfallen, bekommen die Betreiber weniger "Kilometergeld" von den Bundesländern. "Beim letzten Mal ging uns ein fünfstelliger Betriebskostenzuschuss verloren", berichtete Gehrke. "Dieses Geld ist jetzt weg."  © Berliner Zeitung

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