Der 10. Mai 2023 ist ein Mittwoch. Gegen 14.20 Uhr holt Carolin G. ihren zweijährigen Sohn Paul* von der Kita in Berlin ab.

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Das Wetter ist schön. Deswegen verbringt die 40 Jahre alte Mathelehrerin den Nachmittag mit ihrem Kind auf einem Spielplatz in Zehlendorf.

Mit Björn R., Pauls Vater, führt Carolin G. seit Monaten einen Streit um das gemeinsame Kind, der immer erbitterter wird. Sie darf ihren Sohn jedes zweite Wochenende zu sich ins brandenburgische Niemegk holen, ihn zweimal in der Woche von der Kita abholen, um mit ihm den Nachmittag zu verbringen und Paul dann bei Björn R. abzugeben. So sehen es die vom Familiengericht angeordneten Umgangsregeln vor. Carolin G. hat dagegen Beschwerde eingelegt, sie will um ihr Kind kämpfen.

Gegen 17.30 Uhr bringt sie den Sohn zu seinem Vater. Björn R., ein Elektriker, wohnt in Zehlendorf und wartet bereits am Tor seines Hauses. Eine Nachbarin, die immer zur selben Zeit mit ihrem Hund unterwegs ist, wird das später bezeugen. Sie lebt in einer der Mietwohnungen, die Björn R. gehören. Die Übergabe des Kindes dauert nicht lange. Pauls Eltern haben sich nicht mehr viel zu sagen. In acht Tagen hat Carolin G. Geburtstag. Den will sie mit ihrem kleinen Sohn feiern.

Erwiesen ist, dass sich Carolin G. um 17.34 Uhr in ihrem Hyundai Kombi von Zehlendorf auf den Heimweg nach Niemegk macht. Über die Bundesstraße 1 und die Autobahn 115 gelangt sie zur A9 und fährt Richtung Leipzig.

Zwischen 18.10 und 18.15 Uhr ist sie hinter der Anschlussstelle Beelitz, als ein alter, dunkelgrauer Opel Vectra ihren Wagen touchiert und dadurch den Seitenspiegel auf der Fahrerseite abreißt. Sie ist eine unsichere Fahrerin, hat in der Vergangenheit schon mehrere kleine Unfälle verursacht.

Carolin G. fährt am Autobahn-Kilometer 15,8 auf den Standstreifen. Der Unfallverursacher folgt, parkt sein Fahrzeug vor ihrem Auto. Ein Mann steigt aus. Zeugen, die auf der A9 unterwegs sind, werden ihn später als 1,80 Meter groß und schlank beschreiben.

Der Mann trägt Basecap, darüber die Kapuze einer Jacke, die er sich tief ins Gesicht gezogen hat. Er tritt an die Fahrerseite von Carolin G.s Wagen. Die ist vermutlich völlig ahnungslos, hat noch nicht einmal Zeit, den Motor auszustellen, als der Mann eine Schusswaffe, Kaliber neun Millimeter, zieht.

Carolin G. dürfte nun vor Schreck erstarrt sei. Sie kann noch ihren Sicherheitsgurt lösen, sich panisch zur Beifahrertür recken. Umsonst: Ihr Mörder feuert mindestens fünf Mal durch das geschlossene Fenster auf sie. Ein Projektil zerfetzt ihren Herzbeutel.

Das reicht dem Killer nicht. Er will auf Nummer sicher gehen, läuft einmal um das Auto herum, beugt sich dann durch das zerstörte Fahrerfenster, setzt die Waffe auf die Hüfte der schon tödlich getroffenen Frau und drückt noch zweimal ab. Wäre Carolin G. nicht schon tot, dann wäre sie es jetzt.

Andere Autofahrer müssen dem Mann, der dicht am rechten Fahrbahnstreifen steht und sich in das Innere eines Autos beugt, ausweichen. Aber was nimmt jemand wahr, der mit 120 Kilometer pro Stunde oder schneller an zwei auf dem Standstreifen stehenden Fahrzeugen vorbeifährt? Würde nicht jeder an eine Panne denken? "Wieder so ein Idiot, der sein Kind auf der Autobahn wickeln muss", sagt sich ein Fahrer, der den Mann später beschreiben kann.

Der Mörder der Lehrerin macht noch das Warnblinklicht des Hyundais an. Dann geht er zu seinem Wagen, steigt ein und fädelt das Fahrzeug gegen 18.17 Uhr wieder in den fließenden Verkehr ein. Erst rund 90 Minuten später wird die Leiche von Carolin G. von Polizeibeamten entdeckt.

16 Monate nach den tödlichen Schüssen auf der A9 steht Maria Stiller im vollbesetzten Saal 8 des Potsdamer Landgerichts. Es ist still, als sie eindringlich und detailliert in ihrem Plädoyer diese letzten Minuten im Leben von Carolin G. schildert. Man kann den Zeitablauf dieser regelrechten Hinrichtung als bewiesen ansehen.

Maria Stiller ist 38 Jahre alt und Staatsanwältin, und dieser Verhandlungstag gehört ihr. Es gibt in diesem Verfahren keine DNA und auch keine Mordwaffe. Stiller reiht Indiz an Indiz, bis sich für sie ein vollständiges Bild der Tat und der Motivation ergibt, darunter sind viele Textnachrichten und Zeugenaussagen.

Polizisten sichern am Auto von Carolin G. auf der A9 Spuren.
Polizisten sichern am Auto von Carolin G. auf der A9 Spuren. © dpa

Wie ein Landschaftspuzzle mit tausend Teilen sei das Bild eines perfiden Mordplans klar erkennbar, "auch wenn Teile des Himmels unter den Teppich gerutscht" seien, sagt die Anklägerin. Den Ermittlern der Mordkommission sei kein Weg zu weit gewesen, und sie hätten keine Mühe gescheut, das Verbrechen aufzuklären.

Gegenüber der Staatsanwältin sitzen die Angeklagten: Björn R., der Ex-Partner von Carolin G. und Vater des gemeinsamen Sohnes, und sein Schulfreund Benjamin K. Für Stiller ist es erwiesen, dass die Männer gemeinschaftlich handelnd die Lehrerin ermordet haben – heimtückisch, aus niedrigen Beweggründen und Habgier. Drei Mordmerkmale, die laut Stiller neben der lebenslangen Haft auch für eine besondere Schwere der Schuld der Angeklagten sprechen.

Folgt die Schwurgerichtskammer diesem Antrag, dann können Björn R. und Benjamin K. nicht nach 15 Jahren Haft auf Bewährung entlassen werden. Die Männer haben sich bis zuletzt gegenseitig beschuldigt, ihre eigene Verantwortung abgestritten, ihre Anwälte fordern Freispruch. Weil der letzte Beweis für die Schuld ihrer Mandanten fehle.

Am Freitag soll das Urteil in diesem Mammutverfahren gesprochen werden, in dem 182 Zeugen gehört wurden.

Es ist ein ungeheuerlicher Vorwurf, den die Staatsanwältin erhebt. Der 42-jährige Björn R. soll den Mord lange geplant haben und dem ein Jahr älteren, leichtgläubigen Benjamin K. das Opfer als schlechte Mutter dargestellt und ihn zu der Tat angestiftet haben. Benjamin K. sei der Vollstrecker, so Stiller. Der Auftragskiller, der ständig in Geldnot war.

Kann man das glauben? Im Prozess tritt K. als eher liebenswürdiger Tollpatsch auf, der mit einer Chromosomenanomalie geboren wurde, mit der viele andere Krankheiten einhergehen. Benjamin K. hat Epilepsie und mehrere Bandscheibenvorfälle. Seine Hände zittern stark. Am Tattag will er bei einem Bekannten in Berlin gewesen sein. Abends habe er es nicht mehr bis nach Hause geschafft, sondern wegen seiner starken Rückenschmerzen völlig entkräftet in seinem Wohnmobil geschlafen.

Björn R. ist das genaue Gegenteil. Er hat es als selbstständiger Handwerker zu einem gewissen Wohlstand gebracht und wohl mehrere Frauenbekanntschaften gleichzeitig gepflegt. Im Prozess schreibt er mit gerötetem Gesicht eifrig mit, schaut selten zu den Zeugen, die den Saal betreten.

Das Motiv der Tat steht für Stiller fest: Björn R. habe das gemeinsame Kind nur für sich haben wollen, Carolin G. gehasst, sie als Mutter verunglimpft und einem regelrechten Psychoterror ausgesetzt, sodass "aus einer toughen Frau ein zitterndes Häufchen Elend wurde". Und doch: Die Lehrerin wehrte sich. Es war, glaubt man Maria Stiller, ihr Todesurteil. Selbst die Verteidiger der beiden Angeklagten müssen in ihren Plädoyers einräumen, dass die Polizei gute Arbeit geleistet habe.

Björn R. und Carolin G. lernten sich Ende 2019 über das Internet kennen, sie verband der Wunsch nach einem Kind. Schon nach wenigen Monaten wurde die Lehrerin schwanger. Doch als Paul auf der Welt war und die Kindesmutter zu Björn R. nach Zehlendorf zog, war es mit der guten Beziehung schnell vorbei. Im selben Haus lebten auch die Eltern von Björn R. Gemeinsam sollen sie Carolin G. das Leben schwer, ihr im Umgang mit dem Kind Vorwürfe gemacht haben.

Als sich der Sohn im Juni 2022 bei einem Unfall den Fuß mit heißem Tee verbrühte, soll Björn R. außer sich gewesen sein. Damals schon habe es der Kindesvater laut Stiller ernst gemeint, als er Carolin G. hasserfüllt gesagt habe, er hätte sie umgebracht, wäre er anwesend gewesen. Ein paar Tage später habe Björn R. diese Drohung in einer Nachricht an Benjamin K. bekräftigt: Carolin G. könne froh sein, dass er nicht dabei gewesen sei. "Sonst würden jetzt die Regenwürmer an ihr nagen."

Carolin G. habe gespürt, dass es für sie keine Zukunft mit Björn R. geben würde, sagt die Staatsanwältin. Als die Mutter mit ihrem Kind Mitte Juli 2022 in ein Frauenhaus zog, schrieb Björn R. in einer Kurznachricht an seinen Schulfreund, seine Ex habe seinen Sohn "entführt". "Kennst du jemanden, der das unkonventionell löst?" Und Benjamin K. soll geantwortet haben, er werde sich umhören. Björn R. schrieb zurück: Er meine beseitigen.

Pauls Vater nimmt in dieser Zeit laut Stiller auch Kontakt zu einem Anwalt auf, der über gute Beziehungen ins Berliner Clanmilieu verfüge. Der Angeklagte soll diesem Juristen von einem Spezialauftrag erzählt haben. Von "entsorgen" ist die Rede. Wenig später habe Björn R. einem Bekannten eine scharfe Waffe gezeigt, die er für Elektrikerarbeiten im Clanmilieu erhalten haben will.

Kurz danach soll er Benjamin K. den Auftrag erteilt haben, Carolin G. zu observieren. Zeugen, so sagt es Stiller, hätten den extrem blassen Mann mit dem markanten Gesichtsknochen, Sonnenbrille, Basecap und Kapuzenjacke – in dem Outfit tritt Benjamin K. wegen seiner Krankheit auch im Gerichtssaal auf – immer wieder vor Pauls Kita gesehen. Und auch vor der Oberschule in Brück, an der Carolin G. unterrichtete. Hinzu kommt, dass der Frührentner selbst zugegeben hatte, die Frau beschattet zu haben – für einen Stundenlohn von 15 Euro.

Am 15. März 2023 bekommt Björn R. vom Amtsgericht Schöneberg das Aufenthaltsbestimmungsrecht für den Sohn zugesprochen. Doch drei Wochen später legt Carolin G. dagegen Beschwerde beim Kammergericht ein. Zu dieser Zeit sei Björn R. mit seiner neuen Freundin liiert und jeden Tag geladen gewesen, sagt Stiller. Die Zeugin, so die Staatsanwältin, habe die alarmierenden Bemerkungen ignoriert, dass Carolin G. weg müsse und er nun ein Auto gefunden habe, das man ihm nicht zuordnen könne.

Stiller sagt, es sei den Ermittlern in kriminalistischer Kleinarbeit gelungen, das Tatfahrzeug den beiden Angeklagten zuzuordnen – auch wenn es durch viele Hände gegangen sei und Björn R. es ohne Kaufvertrag und Papiere erworben habe.

Und auch zu den angeblichen körperlichen Einschränkungen von Benjamin K. äußert sich die Staatsanwältin. So habe die Polizei ermittelt, dass der so gebrechlich auftretende Angeklagte noch am Abend vor der Tat bei einem mehrstündigen Konzert gewesen sei und einen Tag nach dem Mord drei Stunden lang eine Wohnung geputzt habe. "Dazu ist man mit einem Bandscheibenvorfall nicht in der Lage", sagt Stiller.

Letztlich aber führte ein verräterischer Satz zur Verhaftung der beiden Angeklagten. Zwei Monate nach der Tat erwähnte Björn R. in einem Telefonat mit Benjamin K.: Er habe dann doch ein bisschen Bammel, dass jemand Fotos gemacht habe oder dass es Dashcam-Aufnahmen gäbe. "Das wäre dann doof." Zu dieser Zeit wurden die Handys der Verdächtigen bereits abgehört. Und Stiller ist sich sicher, dass Benjamin K. von der Tat profitierte. So soll ihm sein Schulfreund das Geld für ein Wohnmobil gegeben haben.

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Paul ist heute dreieinhalb Jahre alt und lebt bei seiner Tante, der Schwester von Carolin G. Er wird, so sagt es die Staatsanwältin, später keine Erinnerung mehr haben an seine Mutter. Dafür sei der Junge zur Tatzeit einfach noch zu klein gewesen. Stiller sagt, Carolin G. wäre gestorben für ihr Kind. Am Ende ist sie es auch.

* Name geändert  © Berliner Zeitung

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