Ärzte und Sanitäter müssen in Berlin immer mehr Messerverletzungen versorgen. Die meisten Berliner Kliniken – außer die Charité – hüllen sich in Schweigen darüber, wie viele Stich- beziehungsweise Schnittverletzungen durch Messer sie in den vergangenen Jahren behandeln mussten.

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Die Berliner Zeitung fragte deshalb bei der Feuerwehr nach und erhielt Zahlen, die auf einen erheblichen Anstieg der Messergewalt in Berlin hindeuten. Wir haben mit einem Mann gesprochen, der sich mit Messerverletzungen auskennt. Martin Bender ist Leitender Notarzt und Oberarzt bei der Berliner Feuerwehr im Bereich der Einsatzvorbereitung Rettungsdienst. Bender ist oft "auf der Straße", wie er sagt. Die Berliner Zeitung hat mit ihm per Videocall gesprochen.

Herr Bender, Messerangriffe haben im vergangenen Jahr zugenommen. Die Berliner Feuerwehr hatte 294 Rettungseinsätze wegen Stich- oder Schnittverletzungen – 64 mehr als im Vorjahr. Wie erleben Sie das selbst in der Praxis?

Bedauerlicherweise ist das inzwischen unsere Einsatzrealität, auch im Tagesgeschäft. Meine Kollegen und ich fahren gezielt auch zu solchen Verletzungsmustern, um da individuell zu unterstützen. Die Meldebilder und das, was wir nachher tatsächlich vor Ort vorfinden, gehen allerdings sehr oft weit auseinander.

Was meinen Sie mit Meldebildern?

Wir fahren relativ oft zu Stichverletzungen im gefährlichen Bereich, also am Brustkorb, im Bauchraum und im Oberarm- oder Oberschenkelbereich, also all das, was nah am Körperstamm ist. Oft ist es dann am Ende doch so, dass eine Schnittverletzung am Unterarm besteht. Der eine sagt, ich wurde mit einem Messer angegriffen, dann wird gefragt: "Wo denn?" Und dann kann er das nicht zuordnen. Oder der Anrufer ist gar nicht das Opfer, sondern ist ein Zeuge, der es aber nicht so richtig gesehen hat. Insofern ist das einfach eine Unschärfe, die in der Telefonabfrage liegt, die wir auch nicht rausbekommen.

Wenn man die Daten der Feuerwehr, der Polizei und die der Krankenhäuser zusammen betrachten würde, würde man dann klarer sehen?

Die Zahlen aus den Krankenhäusern sind sauberer als unsere. Dort gibt es eine Abschlussdiagnose, die wirklich mit einer eingehenden Untersuchung einhergeht. Auch wir haben natürlich eine Verdachtsdiagnose, oder Arbeitsdiagnose, die wir stellen, wenn wir die Patienten in die Klinik bringen. Aber das, was tatsächlich in der Klinik ankommt, kommt ja auch nicht alles beim Rettungsdienst an. Das Zusammenspiel mit den Polizeidaten ist wichtig, um zu differenzieren, ob die Verletzung selbst beigebracht war oder ob es eine Straftat war. Wir Notärzte stellen ja keine Ermittlungen an.

Bis auf die Charité hat keine Klinik Zahlen zu Messerangriffen veröffentlicht. Die Berliner Zeitung hat auch andere Krankenhäuser angefragt – ohne Erfolg. Die Kliniken argumentierten teilweise dergestalt, dass es keinen eindeutigen Diagnoseschlüssel für "penetrierende Stichverletzungen" gäbe, zu denen Messerangriffe gehören. Ist das plausibel?

Ich halte das für sehr plausibel, die Aussage von den Kliniken, und denke, dass Daten von einem Traumanetzwerk die besten Daten wären, weil dabei die Eingabe so erfolgt, dass man auch entsprechende Fragestellungen klären kann. Die Krankenhäuser müssen die Daten auch nicht separat vom Traumanetzwerk erfassen. Ein verpflichtendes Register wäre natürlich für viele Fragestellungen sinnvoll, aber wir sind ja nicht mal bei den Reanimationen deutschlandweit so weit, dass die Zahlen gemeldet werden müssen.

Wenn Sie zu einem Verletzten gerufen werden, der mit einem Messer attackiert wurde – was tun Sie als Erstes?

Zunächst frage ich: Ist der mutmaßliche Täter noch unterwegs? Und ist diese Einsatzsituation sicher für mich oder besteht eine Gefahr vor Ort? Das klären wir sehr schnell mit der Polizei. Und wenn es keinen Anhaltspunkt für eine fortbestehende Gefahr gibt, dann gehen wir in die Versorgung. Dabei arbeiten wir immer ein standardisiertes Schema ab, das sogenannte CABCDE Schema. C steht dabei für "critical Bleeding". Da geht es darum, ob irgendwo Blut entgegenspritzt oder irgendwo in hoher Flussrate Blut hinausläuft. Dann geht es um die Atmung, den Kreislauf. Es geht immer nach dem Grundsatz "Treat first, what kills first". Bei den sehr kritischen Patienten sind wir auch darauf angewiesen, dass die Polizei erste Maßnahmen ergreift oder die Ersthelfenden schon mit Händen versuchen, die Blutung zu stoppen, bevor jemand aus den großen Arterien, also am Hals, in der Achsel oder in der Leiste ausblutet. Das sind wenige Minuten und dann würde man zu spät kommen.

Wie unterscheidet sich ein Messerangriff von einem Unfall vom Verletzungsmuster her?

Messerangriffe führen vor allem im Bereich des Brustkorbs zu schweren Folgen und oft zum Tod, weil dort das Herz betroffen ist oder die Lunge. Das sind Verletzungen, die mit dem Leben kaum vereinbar sind, die man sofort adressieren muss. Der zweite Faktor, der auftritt, ist das Verbluten. Das kommt vor allem vor, wenn die großen Gefäße getroffen werden. Das Versorgen dieser Wunden ist natürlich auf der Straße nicht ganz einfach. Für vieles von dem braucht man am Ende einen OP-Saal. Wir müssen diese Menschen daher so schnell es geht in die geeignete Klinik bringen mit einem OP, wo die dann versorgt werden können. Das Gleiche gilt fürs Verbluten. Es gibt Überlegungen, Blut zu transfundieren, also bevor man die Patienten in die Klinik bringt oder auf dem Weg. Das wird international in verschiedenen Städten auch probiert – mit noch unklarem Effekt.

Aus Ihrer ganz persönlichen, subjektiven Erfahrung – was für Menschen erleiden Messerattacken besonders häufig?

Vor allem junge Personen, teilweise auch Teenager. Aber der Schwerpunkt liegt sicherlich so in den Zwanzigern des Lebens. Gerade wenn es um den öffentlichen Raum geht. Bei häuslicher Gewalt gibt es viele Messerangriffe gegen weibliche Personen. Die sind aber nicht diese typische junge Gruppe, sondern ältere Menschen, die Messerstichverletzungen haben.

Wie reagieren Sie in brenzligen Situationen in Zusammenhang mit Messerattacken?

Es gibt die Vorgabe, dass man sich im Zweifel nicht an den Einsatzort begibt. Solange wir nicht wissen, ob der Täter noch aktiv wird oder ist, ist das eine rote Zone für uns. Auch suizidale Situationen treten auf. Da kann es sein, dass der Patient das Messer noch hat. Da nähern wir uns dem Patienten auch, bleiben aber auf Distanz und versuchen, mit ihm oder ihr zu kommunizieren. Das ist natürlich nicht ungefährlich. Das wissen wir auch. Die Polizei ist immer sehr schnell auch beim Einsatz von Schusswaffen, wenn der Täter ein Messer hat, weil Messer eben sehr gefährlich sind.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser will das Waffenrecht verschärfen, wobei Messer mit einer Klingenlänge über sechs Zentimeter in der Öffentlichkeit nicht mehr mitgeführt werden sollen? Für wie sinnvoll halten Sie das aus medizinischer Sicht?

Aus medizinischer Sicht kann das Messer mit der Klingenlänge von 16 Zentimetern natürlich noch mehr Schaden verursachen als das Messer mit fünf Zentimetern, aber fünf Zentimeter reichen. Ich befürworte aber per se, wenn bestimmte Messerverbotszonen eingerichtet werden oder generelle Verbote für Messer bestehen. Dabei wird es Ausnahmen geben. Sie werden das Taschenmesser für den Apfel nicht verbieten und man muss auch ein Küchenmesser kaufen können und das nach Hause bringen dürfen. Aber das regelt man bei Schusswaffen auch nicht anders und ich glaube nicht, dass jeder einen Messerführerschein braucht. Es gibt ja auch dieses Aufrüsten der Messer – der eine hat ein Messer mit, weil er denkt, der andere hat auch ein Messer mit und dann stehen wir nachher alle mit Messern gegenüber und setzen sie dann leider auch ein. Insofern glaube ich, dass Verbotszonen schon eine Maßnahme sind. Die wichtigere Maßnahme ist aber sicherlich Sozialarbeit.

Was hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Lebensrettung verändert?

Vor allem beim Thema Kreislaufstillstand durch Trauma haben wir heute andere Maßnahmen als früher. Wenn Sie heutzutage einen Herz-Kreislauf-Stillstand haben, zum Beispiel aufgrund von Stichverletzungen im Herzen, dann ist entweder das Blut in den Herzbeutel gelaufen, dann wird das Herz zusammengedrückt und kann sich nicht füllen und/oder sie haben im Rippenfell Blut oder Luft. Wenn Sie auf so einem Patienten Herzdruckmassage machen, dann kommt überhaupt kein Blut im Gehirn an und deswegen wirkt diese Therapie nicht. Das hat man erkannt. Also stoppen wir die Blutung und entlasten den Thorax durch ein Loch im Thorax, damit sich die Luft nicht dort sammeln kann. Es gibt auch Ausnahmefälle, wo wir auch Operationen auf der Straße durchführen. Das sind aber Einzelfälle.

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Wie sieht das beispielsweise in Großbritannien aus?

Es gibt einen großen Erfahrungsschatz bezüglich dieser Therapien in London, auf dem Traumahubschrauber in London, die sich sehr fokussiert haben auf die Behandlung solcher Traumapatienten im Kreislaufstillstand oder kurz davor. So weit sind wir in Deutschland aber nicht – in keinem Rettungsdienstbereich.   © Berliner Zeitung

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