Schnelle Wolt-Fahrer rasen zwischen Kinderwagen entlang, Flaneur-Pärchen mit Pali-Tuch laufen neben Hundebesitzern und Lastenradfahrern, und mittendrin liegt ein kleiner Junge in einer Hängematte und liest aus einem Buch, sein Gesicht verschwindet richtig hinter dem Buchdeckel, auf dem in dicken Buchstaben steht: "Linus ist jetzt anders".

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Es ist ein Buch über die Pubertät. Im Hintergrund spielt die Live-Band "Herr Tante und Frau Onkel" etwas Jazzmusik.An diesem Freitag ist die Oranienstraße plötzlich anders. In Berlin wird an verschiedenen Orten der Parking Day begangen, aber nirgends so offensichtlich wie hier in Kreuzberg. Die wohl anstrengendste Straße des Kiezes ist für einen Tag eine Fußgängerzone. Bis zum Nachmittag heißt das vor allem: Es ist so viel stiller. Und: Die auffällig modisch gekleidete Schlange vor dem Vintage-Kleidungsladen Voo kann sich auf die gesamte Oranienstraße ausbreiten. Dort ist gerade Ausverkauf.

Der Parking-Day-Veranstalter VCD ist zumindest sehr zufrieden, wie der Tag angenommen wird von den Kreuzbergern: "An anderen Tagen ist diese Straße doch ein totales Chaos", sagt er und zählt auf: "Lieferverkehr, Zweite-Reihe-Parker, Busse, Fahrradfahrer mittendrin." Das sei immerhin ein Hauptboulevard im Kiez. "Und im Gegensatz zur Bergmannstraße gibt es hier keine einzige Infrastruktur-Maßnahme, keine Bus- oder Fahrradspur."

Dieser Tag startete im Jahr 2016 als Idee, um zu zeigen, wie Parkplätze alternativ genutzt werden können. Weltweit verwandeln Künstler, Designer oder Aktivisten einen Parkplatz in einen temporären öffentlichen Park. In der Oranienstraße sind Blumenkübel aufgestellt, Leseecken und Spielflächen für Kinder. Der Verband der Fahrradfahrer ADFC hat gleich einen mobilen Fahrradweg auf die Straße gerollt – zumindest für diesen Tag.

Eberhard Brodhage vom ADFC nennt die Wahl von Kai Wegner (CDU) zum Regierenden Bürgermeister eine "Zeitenwende für alle, die mit nicht motorisiertem Verkehr zu tun haben". Im Berliner Straßenverkehr gebe es 800 verletzte Kinder pro Jahr und der Senat nehme Maßnahmen zum Schutz von Kindern und älteren Menschen eher zurück. "Ich kann immer weitermachen: Die Radschnellwege, die Fahrradparkhäuser und viele andere Maßnahmen sind auf Eis gelegt."

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Brodhage lebt seit fünf Jahren in Berlin und weiß genau, dass sich sonst um diese Zeit der Verkehr auf der Oranienstraße staut. Immer wieder bleiben neben ihm Menschen stehen und machen Fotos von der Straße, einfach weil das Bild so ungewöhnlich ist: Die Fahrradfahrer, die Jogger, die Hängematten und die immer länger werdende Schlange vor dem Vintage-Geschäft.

"Nur 270 von 1000 Berlinern haben ein Auto", sagt der ADFC-Sprecher, "Sie sind eigentlich eine Minderheit, die aber eine starke Lobby haben." Wie könne es sein, dass eine Stadt wie Hamburg in einem Jahr fast dreimal so viel Fahrradwege baut als Berlin? "Was in Berlin derzeit passiert, ist Rückschrittspolitik." Er schränkt ein, dass sein Blick gerade vielleicht auch davon beeinflusst sei, dass er in Kopenhagen war und dort gesehen hat, wie Verkehrspolitik auch gehen kann.

Bis 22 Uhr wird am Freitagabend noch auf der Oranienstraße gefeiert, schon während die erste Band an der Adalbertstraße zu spielen beginnt, startet am Rio-Reiser-Platz eine Diskussion, wo neben der Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann auch Johannes Kraft von der Pankower CDU spricht. Er sagt: "Wir sind uns doch einig bei der Stärkung der Verkehrssicherheit und des Öffentlichen Verkehrs, aber was wir nicht wollen, ist ein blinder Kampf gegen das Auto." Niemand klatscht, ein Radfahrer ruft etwas und fährt wütend weg. Ein Ganzkörper-Tätowierter mit einer Tasche aus dem Vintage-Laden läuft vorbei und schaut kurz irritiert.  © Berliner Zeitung

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