Es geschah vor vier Jahren. Rosi war noch nicht volljährig, als sie Opfer sexualisierter Gewalt wurde.

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Sie wandte sich an eine Freundin, weihte die Familie ein, folgte dem Rat, sich sofort bei der Polizei zu melden. Was sie dann erlebte, passiert in Berlin immer wieder. Rosi wartete, wartete eine gefühlte Ewigkeit, bis sie ihre Aussage machen konnte. Es waren schließlich männliche Beamte, denen sie sich offenbaren musste, allein in einem Raum. "Mein Wunsch, mit einer Polizistin reden zu dürfen, wurde abgelehnt", sagt Rosi.

Sie gab ihre Kleidung ab für die Spurensicherung, erhielt als Ersatz viel zu große Sachen. "Ich habe mich sehr unwohl gefühlt", sagt Rosi. "Es wurde nicht auf mich eingegangen." Sie hätte sich gewünscht, dass sie schneller erlöst worden wäre – an diesem Tag, aber auch insgesamt: Das juristische Verfahren zog sich drei Jahre lang hin. In dieser Zeit jedoch hatte Rosi die Chance, das erlittene Trauma zu verarbeiten, in einer Trauma-Ambulanz. "Heute geht es mir deutlich besser", sagt die junge Frau Anfang 20. Im vergangenen Jahr begann sie ihre Traumausbildung.

Zu Fällen von sexualisierter Gewalt wie jenem von Rosi kommt es in Berlin kommt es in Berlin häufig, etwa 1000 Opfer registrieren die Strafverfolgungsbehörden in jedem Jahr . Damit die juristische Aufarbeitung den Betroffenen künftig so leicht wie möglich gemacht wird, gibt es an der Charité ein sogenanntes Childhood-Haus, am Campus Virchow im Wedding. Im Dezember 2025 soll es ein neues Gebäude beziehen.

Am Donnerstagvormittag gab es den symbolischen Spatenstich. Königin Silvia von Schweden war dafür angereist. Ihre World Child Foundation fördert solche Projekte; das Projekt im Wedding finanziert sich aus Spenden und Mitteln der Charité. In Schweden gibt es inzwischen 35 Childhood-Häuser, in den USA an die 1000, von dort stammt die Idee. Hierzulande existieren bislang zehn Häuser, eines in Berlin. Im Moment ist es noch in der Kinderschutzambulanz untergebracht – in beengten Verhältnissen. Das soll sich bald ändern.

Die Charité versorgt pro Jahr insgesamt etwa 100.000 Kinder. Manchmal besteht der Verdacht, dass sie vernachlässigt oder misshandelt wurden. "Im klinischen Bereich werden rund 50 schwer verletzte Kinder auf den Stationen und mehr als 1000 im ambulanten Bereich behandelt", sagt Winter über die Situation am Campus Virchow. Dazu würden in Spezialambulanzen um die 300 Fälle untersucht, bei denen Gewalt im Spiel gewesen sein könnte. Das Childhood-Haus Berlin kümmert sich jährlich um 150 Kinder, weitere 150 werden in einer Trauma-Ambulanz psychotherapeutisch behandelt.

Bundesweit ist ein Anstieg bei der Gewalt gegen Kinder zu verzeichnen. So wurden im vergangenen Jahr mehr als 16.300 Fällen von sexuellem Missbrauch registriert, 5,5 Prozent mehr als 2022. Im Vergleich zu 2019 waren es sogar 20 Prozent mehr. Das Dunkelfeld dürfte sehr viel größer sein. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehe davon aus, dass 90 Prozent der Fälle unentdeckt bleiben. "Wir sehen sehr viele von Gewalt betroffene Kinder nicht", sagt auch Sibylle Winter, die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Berliner Charité. Sie leitete das Childhood-Haus im Wedding.

Die Fälle, die in Berlin angezeigt werden, vertraut die Polizei dem Childhood-Haus an, wo die Ermittlungen in Gang kommen. Wurde ein Mädchen oder ein Junge Opfer von Gewalt? Handelte es sich um sexualisierte Gewalt? Wer war der Täter? Wie lassen sich die Ermittlungen so schnell und so schonend wie möglich für die Opfer abschließen? Antworten auf diese Fragen sollen künftig in Räumlichkeiten gefunden werden, die exakt auf die Bedürfnisse der Kinder und die Abläufe zugeschnitten sind.

Experten aus unterschiedlichen Bereichen arbeiten Hand in Hand: Mediziner, Psychologen und Sozialpädagogen kooperieren mit der Jugendhilfe, der Polizei und der Justiz. "Das Kindeswohl steht an erster Stelle", sagt Winter. "Alles muss vom Kind aus gedacht werden." Bisher lief es in akuten Fällen oft anders. Zum Beispiel, wenn eine Heranwachsende vergewaltigt wurde. "Meist sind es jüngere Jugendliche", berichtet Winter. Wenden sie sich an die Polizei, verbringen sie wie Rosi erst einmal viel Zeit auf einer Dienststelle. Für die ersten medizinischen Schritte muss ein Krankenhaus mit freien Kapazitäten gefunden werden. Und mit Ärzten, die sich die erforderlichen Untersuchung zutrauen. Es vergehen Stunden. Eine traumatische Erfahrung.

"Irgendwann kommen sie ins Virchow-Klinikum", sagt Winter. Früher wurden sie zunächst auf die Rettungsstelle gebracht, die stark ausgelastet ist. Seit zwei Jahren existiert nun aber am Charité-Standort Wedding eine spezialisierte Rufbereitschaft. "Sie besteht aus acht Ärzten." Die können innerhalb kurzer Zeit bei den minderjährigen Patienten sein und sich ausschließlich um sie kümmern.

Das neue Childhood-Haus wiederum verkürzt das Verfahren allein schon deshalb, weil die einzelnen Schritte unter einem Dach stattfinden. Die medizinische Nachsorge etwa, Untersuchungen auf HIV, Hepatitis B oder auf eine eventuelle Schwangerschaft. Geklärt wird, ob die Trauma-Ambulanz eingeschaltet, ob und wo das Kind zunächst untergebracht werden soll. "Wir geben den Jugendämtern Anhaltspunkte, welche Schutzmaßnahmen notwendig sind."

Auch die Vernehmungen finden im Childhood-Haus statt. "Insbesondere bei sexualisierter Gewalt ist die Aussage sehr entscheidend", sagt Winter. Sie verfügen über eine Videoanlage, die Vernehmungen durch einen Richter aufzeichnen kann und so dem Opfer die belastende Teilnahme an der Hauptverhandlung im Gericht erspart. "Für das Kind kann das Verfahren im Childhood-Haus innerhalb von drei Monaten abgeschlossen werden." Normalerweise sind drei bis vier Jahre zu veranschlagen.

Die vertraute Umgebung und das immer gleiche, kompetente Personal sind weitere wichtige Faktoren. "Dadurch wird das Kind gestärkt, die Belastung sinkt", sagt Winter. Die Qualität der Aussagen steige und damit die Verurteilungsrate. Die ist derzeit niedrig, nicht nur in Berlin und Deutschland, sondern weltweit.

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Steigern möchte die Medizinerin auch eine weitere Rate: Derjenigen, die nach der Akutversorgung weiter von Fachpersonal betreut werden möchten. Etwa die Hälfte der Kinder bricht momentan den Kontakt ab. "Jemand, der so etwas erlebt hat, denkt, es sei nicht passiert, wenn er nicht mehr kommt", sagt Winter. Und so müssen sie dann mit dem Trauma leben. Die Professorin hat sich zum Ziel gesetzt, die Quote bei der Nachsorge zu steigern: "In diesem Punkt müssen wir besser werden." Vielleicht kann das neue Childhood-Haus helfen. Das wünscht sich Königin Silvia: "Einen Ort", sagt sie, "der dafür sorgt, dass das Kind gestärkt aus dem Verfahren hervorgeht, egal welchen Ausgang es nimmt."  © Berliner Zeitung

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